STAATSGRUNDGESETZ VOM 21. DEZEMBER 1867

ÜBER DIE RICHTERLICHE GEWALT

(R.G.BL. 144/1867)

 

Wirksam für Böhmen, Dalmatien, Galizien, Oesterreich unter und ob der Enns, Salzburg, Steiermark, Kärnthen, Krain, Bukowina, Mähren, Schlesien, Tirol mit Vorarlberg, Görz und Gradiska, Istrien und die Stadt Triest mit ihrem Gebiete.

Mit Zustimmung der beiden Häuser des Reichsrathes finde Ich nachstehendes Staatsgrundgesetz über die richterliche Gewalt zu erlassen und anzuordnen, wie folgt.

Art. 1 – Alle Gerichtsbarkeit im Staate wird im Namen des Kaisers ausgeübt.

Die Urtheile und Erkenntnisse werden im Namen des Kaisers ausgefertigt.

Art. 2 – Die Organisation und Competenz der Gerichte wird durch Gesetze festgestellt.

Ausnahmegerichte sind nur in den von den Gesetzen im Voraus bestimmten Fällen zulässig.

Hierzu auch Gerichtsorganisationsgesetz R.G.Bl. 217/1896

Art. 3 – Der Wirkungskreis der Militärgerichte wird durch besondere Gesetze bestimmt.

Art. 4 –Die Gerichtsbarkeit bezüglich der Uebertretungen der Polizei- und der Gefälls-Strafgesetze wird durch Gesetz geregelt.

Art. 5 – Die Richter werden vom Kaiser oder in dessen Namen definitiv und auf Lebensdauer ernannt.

Art. 6 – Die Richter sind in Ausübung ihres richterlichen Amtes selbständig und unabhängig.

Sie dürfen nur in den vom Gesetz vorgeschriebenen Fällen und nur auf Grund eines förmlichen richterlichen Erkenntnisses ihres Amtes entsetzt werden; die zeitweise Enthebung derselben vom Amte darf nur durch Verfügung des Gerichtsvorstandes oder der höheren Gerichtsbehörde unter gleichzeitiger Verweisung der Sache an das zuständige Gericht, die Versetzung an eine andere Stelle oder in den Ruhestand wider Willen nur durch gerichtlichen Beschluß in den durch das Gesetz bestimmten Fällen und Formen erfolgen.

Diese Bestimmungen finden jedoch auf Uebersetzungen und Versetzungen in den Ruhestand keine Anwendung, welche durch Veränderungen in der Organisation der Gerichte nöthig werden.

Art. 7 – Die Prüfung der Giltigkeit gehörig kundgemachter Gesetze steht den Gerichten nicht zu. Dagegen haben die Gerichte über die Giltigkeit von Verordnungen in gesetzlichem Instanzenzug zu entscheiden.

Art. 8 – Alle richterlichen Beamten haben in ihrem Diensteide auch die unverbrüchliche Beobachtung der Staatsgrundgesetze zu beschwören.

Art. 9 – Der Staat oder dessen richterliche Beamten können wegen der von den letzteren in Ausübung ihrer amtlichen Wirksamkeit verursachten Rechtsverletzungen außer den im gerichtlichen Verfahren vorgezeichneten Rechtsmitteln mittelst Klage belangt werden. Dieses Klagerecht wird durch ein besonderes Gesetz geregelt.

Art. 10 – Die Verhandlungen vor dem erkennenden Richter sind in Civil- und Strafrechts-Angelegenheiten mündlich und öffentlich.

Die Ausnahmen bestimmt das Gesetz. Im Strafverfahren gilt der Anklageprozeß.

Art. 11 – Bei den mit schweren Strafen bedrohten Verbrechen, welche das Gesetz zu bezeichnen hat, sowie bei allen politischen oder durch den Inhalt einer Druckschrift verübten Verbrechen und Vergehen entscheiden Geschworene über die Schuld des Angeklagten.

Art. 12 – Für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder besteht der oberste Gerichts- und Cassationshof in Wien.

Art. 13 – Der Kaiser hat das Recht Amnestie zu ertheilen und die Strafen, welche von den Gerichten ausgesprochen wurden, zu erlassen oder zu mildern, sowie die Rechtsfolgen von Verurtheilungen nachzusehen, mit Vorbehalt der im Gesetze über die Verantwortlichkeit der Minister enthaltenen Beschränkungen.

Die Regelung des Rechtes, anzuordnen, daß wegen einer strafbaren Handlung ein strafgerichtliches Verfahren nicht eingeleitet oder das eingeleitete Strafverfahren wieder eingestellt werde, bleibt den Vorschriften der Strafprozeßordnung vorbehalten.

Hierzu auch Gesetz über die Ministerverantwortlichkeit R.G.Bl. 101/1867, mit dem ein besonderes Gericht, der Staatsgerichtshof errichtet wurde, der für die gerichtliche Ahnung gegen Minister zuständig war; Strafprozeßordnung R.G.Bl. 151/1853.

Art. 14 – Die Rechtspflege wird von der Verwaltung in allen Instanzen getrennt.

Art. 15 – In allen Fällen, wo eine Verwaltungsbehörde nach den bestehenden oder künftig zu erlassenden Gesetzen über einander widerstreitende Ansprüche von Privatpersonen zu entscheiden hat, steht es dem durch diese Entscheidung in seinen Privatrechten Benachtheiligten frei, Abhilfe gegen die andere Partei im ordentlichen Rechtswege zu suchen.

Wenn außerdem Jemand behauptet, durch eine Entscheidung oder Verfügung einer Verwaltungsbehörde in seinen Rechten verletzt zu sein, so steht im frei, seine Ansprüche vor dem Verwaltungs-Gerichtshofe im öffentlichen mündlichen Verfahren wider einen Vertreter der Verwaltungsbehörde geltend zu machen.

Die Fälle, in welchen der Verwaltungsgerichtshof zu entscheiden hat, dessen Zusammensetzung sowie das Verfahren vor demselben werden durch ein besonderes Gesetz bestimmt.

Hierzu Gesetz R.G.Bl. 36/1876.

 

Wien, am 21. Dezember 1867

Franz Joseph

Freiherr von Beust

Graf Taaffe

Freiherr von John, F.M.L.

Freiherr von Becke

Ritter von Hye

Auf Allerhöchste Anordnung

Bernhard Ritter von Meyer

 

Dieses Reichsgrundgesetz ist mit dem Untergang der Österreichisch-ungarischen Monarchie Mitte November 1918 wirkungslos geworden.

 

 

 

 

 

FONTE:

www.verfassungen.de

Fischer-Silvestri, Texte zur österreichischen Verfassungs-Geschichte, Geyer-Edition, 1970.



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