VERFASSUNGSURKUNDE FÜR DAS GROSSHERZOGTUM BADEN IN DER FASSUNG DES GESETZES VOM 26. AUGUST 1904

 

 

(Im Folgenden sind die Bestimmungen, die gegenüber dem Verfassungstext von 1818 unverändert geblieben sind, nicht wiederholt, sondern durch einen entsprechenden Hinweis gekennzeichnet. Die später geänderten oder hinzugesetzten Bestimmungen dagegen sind im Wortlaut angeführt, wobei das Gesetz erwähnt ist, das sie in die Verfassung eingeführt hat.)

 

Vorspruch: unverändert.

 

I. VON DEM GROßHERZOGTUM UND DER REGIERUNG IM ALLGEMEINEN

 

§§ 1 6: unverändert.

 

II. STAATSBÜRGERLICHE UND POLITISCHE RECHTE DER BADENER, UND BESONDERE ZUSICHERUNGEN

 

§§ 7, 8unverändert.

§ 9 – (Gesetz vom 17. Februar 1849)

Alle Staatsbürger ohne Unterschied der Religion haben zu allen Civil‑ und Militärstellen und Kirchenämtern ihrer Konfession gleiche Ansprüche.

Alle Ausländer, welchen Wir ein Staats‑Amt konferieren, erhalten durch diese Verleihung unmittelbar das Indigenat.

§§ 10 – 18: unverändert.

§ 19 – (Gesetz vom 17. Februar 1849)

Die politischen Rechte aller Religionsteile sind gleich.

§§ 20 – 23unverändert.

§§ 24, 25aufgehoben durch § 147 Ziff. 1 des Beamtengesetzes vom 24. Juli 1888.

 

III. STÄNDEVERSAMMLUNG. RECHTE UND PFLICHTEN DER STÄNDE‑GLIEDER

 

§ 26 – unverändert.

§ 27 – (Gesetz vom 24. August 1904)

Die erste Kammer besteht:

1.      aus den Prinzen des Großherzoglichen Hauses,

2.      aus den Häuptern der Standesherrlichen Familien,

3.      aus dem katholischen Landesbischof und dem Prälaten der evangelischen Landeskirche,

4.      aus acht Abgeordneten des Grundherrlichen Adels,

5.      aus je einem Abgeordneten der drei Hochschulen,

6.      aus sechs Abgeordneten, die von den gesetzlich organisierten Berufskörperschaften gewählt werden, und zwar drei von den Handelskammern, zwei von den Landwirtschaftskammern und einer von den Handwerkskammern,

7.      aus zwei Oberbürgermeistern der der Städteordnung unterstehenden Städte, aus einem Bürgermeister einer sonstigen Stadt mit mehr als 3000 Einwohnern und aus einem Mitglied eines der Kreisausschüsse; die Oberbürgermeister und der Bürgermeister werden von den Mitgliedern der Stadträte und der Gemeinderäte, das Mitglied des Kreisausschusses von sämtlichen Mitgliedern der Kreisausschüsse des Landes gewählt,

8.      aus den vom Großherzog ernannten Mitgliedern.

§ 28 – (Gesetz vom 24. August 1904)

Die Prinzen des Hauses und die Standesherren treten, nach erlangter Volljährigkeit, in die Ständeversammlung ein. Von denjenigen Standesherrlichen Familien, die in mehrere Zweige sich teilen, ist das Haupt eines jeden Familien-Zweigs, der im Besitz einer Standesherrschaft sich befindet, Mitglied der ersten Kammer.

Den Häuptern adeliger Familien, deren im Großherzogtum befindlicher als Stammgut anerkannter, nach dem Recht der Erstgeburt und nach der Lineal-Erbfolge vererblicher liegenschaftlicher Besitz nach Abzug des Lastenkapitals im Kataster der direkten Steuern auf mindestens eine Million Mark veranschlagt ist, kann durch Entschließung des Großherzogs das erbliche Recht der Mitgliedschaft in der ersten Kammer (erbliche Landstandschaft) verliehen werden. Fallen die Voraussetzungen der Verleihung weg, so erlischt die erbliche Landstandschaft.

Wer für den minderjährigen oder den wegen Geisteskrankheit entmündigten Besitzer eines standesherrlichen Guts als Vormund bestellt ist, kann, wenn er Agnat der Familie ist, an Stelle des Bevormundeten die Mitgliedschaft in der ersten Kammer ausüben.

Ist das Haupt einer standesherrlichen Familie aus anderen als den im dritten Absatz bezeichneten Gründen an der Ausübung der Mitgliedschaft verhindert, so kann es für die Dauer der Sitzungsperiode einen Agnaten als Stellvertreter mit der Ausübung der Mitgliedschaft betrauen. Die Bestellung des Stellvertreters ist dem Präsidenten der ersten Kammer und, wenn der Landtag nicht versammelt ist, dem Präsidenten des Staatsministeriums schriftlich anzuzeigen.

§ 29 – (Gesetz vom 24. August 1904)

Bei der Wahl der grundherrlichen Abgeordneten sind alle adeligen Eigentümer oder Miteigentümer eines im Großherzogtum befindlichen Gutes wahlberechtigt, welchem im Jahre 1806 die Eigenschaft der Reichsunmittelbarkeit oder das Recht der Patrimonialgerichtsbarkeit zustand.

Adeligen Grundbesitzern, deren im Großherzogtum befindlicher, als Stammgut anerkannter, nach dem Rechte der Erstgeburt und nach der Lineal‑Erbfolge vererblicher liegenschaftlicher Besitz nach Abzug des Lasten‑Kapitals im Kataster der direkten Steuern auf mindestens zweimalhunderttausend Mark veranschlagt ist, kann durch Entschließung des Großherzogs die vererbliche Berechtigung zur Teilnahme an der Wahl der grundherrlichen Abgeordneten beigelegt werden. Fallen die Voraussetzungen der Verleihung weg, so erlischt die Berechtigung.

§ 30 – (Gesetz vom 24. August 1904)

In Ermangelung des katholischen Landesbischofs tritt der Bistumsverweser in die erste Kammer ein.

§ 31 – (Gesetz vom 24. August 1904).

Vom Großherzog werden in die erste Kammer berufen:

1.      zwei höhere richterliche Beamte,

2.      weitere Mitglieder, jedoch nicht mehr als sechs, ohne Rücksicht auf Stand und Geburt.

§ 32 – (Gesetz vom 24. August 1904).

Die zwei höheren richterlichen Beamten werden auf die Dauer ihres Amtes ernannt. Im übrigen erfolgt die Ernennung der vom Großherzog berufenen Mitglieder und ebenso die Wahl der Abgeordneten der Grundherren, der Hochschulen, der Berufskörperschaften und der Städte und Kreise für die vierjährige Landtagsperiode.

§ 32a – (Gesetz vom 24. August 1904).

Bei den Wahlen der im § 27 Ziffer 4 bis 7 bezeichneten Mitglieder sind nur solche Personen wahlberechtigt, welche die badische Staatsangehörigkeit besitzen, im Großherzogtum einen Wohnsitz haben, mindestens fünfundzwanzig Jahre alt sind, und bei denen keine der im § 35 bezeichneten Tatsachen vorliegen.

Die bei diesen Wahlen Wahlberechtigten sind auch wählbar, sofern sie das dreißigste Lebensjahr zurückgelegt haben. Das Ruhen der Wahlberechtigung gemäß § 35 Ziffer 4 schließt die Wählbarkeit nicht aus. Diesen Voraussetzungen der Wählbarkeit müssen auch die in § 28 bezeichneten Stellvertreter entsprechen.

Außerdem ist bei den Wahlen der Abgeordneten der Hochschulen die Wahlberechtigung auf die ordentlichen Professoren der betreffenden Hochschule und bei den Wahlen der Grundherren die Wählbarkeit auf die nach § 29 Wahlberechtigten beschränkt.

§ 32b – (Gesetz vom 24. August 1904).

Wer Mitglied der zweiten Kammer ist, kann nicht als Mitglied in die erste Kammer eintreten.

Nimmt ein Mitglied der ersten Kammer die Wahl als Abgeordneter zur zweiten Kammer an, so hört damit die Mitgliedschaft in der ersten Kammer auf.

§ 33 – (Gesetz vom 24. August 1904).

Die zweite Kammer besteht aus dreiundsiebenzig Abgeordneten. Die Abgeordneten werden, jeder in einem besonderen Wahlkreis, in allgemeiner, unmittelbarer und geheimer Abstimmung gewählt.

§ 34 – (Gesetz vom 24. August 1904).

Zur Abstimmung bei der Wahl der Abgeordneten zur zweiten Kammer sind die männlichen Personen über fünfundzwanzig Jahre berechtigt, welche im Zeitpunkt der Wahl im Großherzogtum einen Wohnsitz haben und seit mindestens zwei Jahren die badische Staatsangehörigkeit besitzen. Jedoch genügt einjähriger Besitz der badischen Staatsangehörigkeit, falls der Wohnsitz im Großherzogtum unmittelbar vor der Wahl mindestens ein Jahr gedauert hat.

§ 35 – (Gesetz vom 24. August 1904).

Die Befugnis zur Ausübung der Wahlberechtigung ruht:

1.      Wenn der Wahlberechtigte unter Vormundschaft oder wegen geistiger Gebrechen unter Pflegschaft steht;

2.      wenn über das Vermögen eines Wahlberechtigten der Konkurs eröffnet ist, während der Dauer des Konkursverfahrens;

3.      wenn der Wahlberechtigte, den Fall eines vorübergehenden Unglücks ausgenommen, eine Armenunterstützung aus öffentlichen Mitteln bezieht oder im letzten der Wahl vorausgegangenen Jahre bezogen hat; die Befreiung von der Entrichtung des für den Besuch öffentlicher Unterrichtsanstalten schuldigen Entgelts und die unentgeltliche Beschaffung der für die Besucher solcher Anstalten erforderlichen Unterrichtsmittel gilt nicht als Armenunterstützung;

4.      wenn der Wahlberechtigte trotz rechtzeitiger Mahnung und ohne Stundung erhalten zu haben bei Abschluß der Wählerliste mit der Entrichtung einer ihm für das vorausgegangene Steuerjahr gegenüber dem Staat oder der Gemeinde obliegenden direkten Steuer im Rückstand ist.

§ 36 – (Gesetz vom 26. August 1904).

Alle wahlberechtigten Staatsangehörigen sind wählbar, ausgenommen diejenigen, welche im Zeitpunkte der Wahl das dreißigste Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder auf welche § 35 Ziffer 1 bis 3 Anwendung findet.

Die Vorsteher und Beamten der Bezirksämter, der Amtsgerichte und Notariate, sowie der Bezirksbehörden der Steuer‑, Zoll‑, Domänen‑, Forstverwaltung, der staatlichen Hochbau‑, Wasserbau‑, Straßenbau‑ und Eisenbahnverwaltung, die Bezirksärzte, Bezirkstierärzte und die Ortsgeistlichen sind in einem Wahlbezirke nicht wählbar, welchem ihr Dienstbezirk ganz oder teilweise angehört.

§ 37 – (Gesetz vom 24. August 1904).

Sämtliche Abgeordnete der zweiten Kammer werden in Zeiträumen von vier Jahren neu gewählt (Landtagsperiode).

Die periodische Wahl findet gleichzeitig für sämtliche Abgeordnete an einem vom Großherzog zu bestimmenden Tage statt.

Die Eigenschaft als Abgeordneter erlischt, wenn seit dem Tage der periodischen Neuwahl vier Jahre umflossen sind.

§ 38 – (Gesetz vom 24. August 1904).

Im übrigen werden die Vorschriften über die Ausübung des Wahlrechts der beiden Kammern, insbesondere über die Wahlkreise und das Wahlverfahren, durch besonderes Gesetz geordnet.(1)

§ 39 – (Gesetz vom 24. August 1904).

Auf die durch Wahl, durch Ernennung oder durch Berufung als Stellvertreter begründete Mitgliedschaft im Landtag kann durch schriftliche Erklärung Verzicht geleistet werden. Dieselbe ist bei versammeltem Landtage dem Präsidenten der betreffenden Kammer, sonst dem Präsidenten des Staatsministeriums abzugeben. Ein Widerruf des rechtsgültig erklärten Verzichts findet nicht statt.

Ist ein gewähltes oder ernanntes Mitglied des Landtags durch Tod, Verzicht oder durch Wegfall einer der für die Wählbarkeit maßgebenden Voraussetzungen ausgeschieden, so hört die Mitgliedschaft des zu seinem Ersatz in den Landtag Eingetretenen in dem Zeitpunkte auf, in welchem der Ausgeschiedene ohne den Eintritt jener besonderen Tatsachen die Mitgliedschaft im Landtag verloren haben würde.

§ 40 – (Gesetz vom 24. August 1904).

Die aus dem Landtag ausgetretenen gewählten Mitglieder sind wieder wählbar, sofern im Zeitpunkt der Wahl die gesetzlichen Voraussetzungen der Wählbarkeit vorliegen.

§ 40a – (Gesetz vom 21. Dezember 1869).

Wenn ein durch Wahl ernanntes Mitglied einer Kammer ein besoldetes Staatsamt annimmt oder im Staatsdienst in ein Amt eintritt, mit welchem ein höherer Rang oder ein höherer Gehalt verbunden ist, so verliert es Sitz und Stimme in der Kammer und kann seine Stelle in derselben nur durch neue Wahl wieder erlangen.

§§ 41, 42unverändert.

§ 43 – (Gesetz vom 24. August 1904).

Die Auflösung der Ständeversammlung bewirkt, daß alle für diese eine Landtagsperiode Gewählten oder Ernannten ihre Mitgliedschaft verlieren.

§ 44 – unverändert.

§ 45 – (Gesetz vom 21. Dezember 1869).

Der Großherzog ernennt für jeden Landtag den Präsidenten der ersten Kammer; die zweite Kammer wählt selbst ihren Präsidenten.

§§ 46 – 48unverändert.

§ 48 a – (Gesetz vom 21. Oktober 1867).

Kein Kammermitglied kann wegen seiner Abstimmungen oder wegen seiner Aeußerungen bei Kammer‑, Abtheilungs‑ und Kommissions‑Verhandlungen anders als nach Maßgabe der Geschäftsordnung der Kammer zur Verantwortung gezogen werden.

Wahrheitsgetreue Berichte über Verhandlungen in den öffentlichen Sitzungen beider Kammern bleiben von jeder Verantwortlichkeit frei.

§§ 49 – 52unverändert.

 

IV. Wirksamkeit der Stände

 

§§ 53 – 59unverändert.

§ 60 – (Gesetz vom 24. August 1904).

Nachstehende, die Finanzen betreffende Vorlagen gehen zunächst an die zweite Kammer:

1.      die Nachweisungen über den Vollzug der Staatsausgaben und ‑Einnahmen (Rechnungsnachweisungen) und die vergleichenden Darstellungen der Budgetsätze mit den Rechnungsergebnissen;

2.      Gesetzentwürfe, welche über die Verwaltung der Staatsausgaben und ‑Einnahmen oder über die direkten und indirekten Staatssteuern dauernde Bestimmungen treffen;

3.      der Entwurf des Finanzgesetzes (Auflagengesetzes, §§ 54 und 55) nebst dem Staatsvoranschlag (Staatsbudget), sowie sonstige Entwürfe über Bestimmung der Steuersätze für eine Budgetperiode, über Veräußerung, Belastung oder Verwendung des Staats‑ oder Domänenvermögens, über Aufnahme von Anlehen, Uebernahme von Staatsbürgschaften oder von sonstigen Staatsverbindlichkeiten ähnlicher Art.

§ 61 – (Gesetz vom 24. August 1904).

Ueber die in § 60 Ziffer 1 bezeichneten Vorlagen findet eine Beschlußfassung der ersten Kammer statt, nachdem die zweite Kammer darüber beschlossen hat.

Ueber die in § 60 Ziffer 2 und 3 bezeichneten Entwürfe wird von der ersten Kammer erst beschlossen, nachdem sie von der zweiten Kammer angenommen worden sind, unbeschadet der Befugnis der ersten Kammer, über die einzelnen Teile des Staatsvoranschlages gesondert zu beschließen, sobald die Beschlußfassung der zweiten Kammer darüber erfolgt ist.

Weichen hinsichtlich der einzelnen Positionen des Staatsvoranschlags (Staatsbudgets) die Beschlüsse der ersten Kammer von denen der zweiten ab und ist auch bei wiederholter Beschlußfassung beider Kammern und nach vorausgegangenem Verständigungsversuch gemäß § 75 Absatz 2 eine Ausgleichung der Verschiedenheiten nicht zu erzielen, so werden diese Positionen in den dem Finanzgesetz anzuschließenden Staatsvoranschlag so eingestellt, wie sich bei der endgültigen Beschlußfassung die zweite Kammer dafür ausgesprochen hat.

Lehnt die erste Kammer einen von der zweiten Kammer angenommenen Entwurf der in § 60 Ziffer 3 bezeichneten Art im ganzen ab, so wird auf Verlangen der Regierung oder der zweiten Kammer in einer Gesamtabstimmung mit Durchzählung der in beiden Kammern abgegebenen Stimmen darüber beschlossen, ob der Entwurf in der ihm von der zweiten Kammer gegebenen Fassung anzunehmen sei.

§§ 62 – 65unverändert.

§ 65a – (Gesetz vom 21. Dezember 1869).

Das Recht, Gesetze vorzuschlagen, steht dem Großherzog sowie jeder Kammer zu.

§ 66 – unverändert.

§ 67 – (Gesetz vom 20. Februar 1868).

Die Kammern haben das Recht der Vorstellung und Beschwerde; Verordnungen, worinnen Bestimmungen eingeflossen, wodurch sie ihr Zustimmungsrecht für gekränkt erachten, sollen auf ihre erhobene gegründete Beschwerde sogleich außer Wirksamkeit gesetzt werden. Sie können den Großherzog unter Angabe der Gründe um den Vorschlag eines Gesetzes bitten. Sie haben das Recht, Mißbräuche in der Verwaltung, die zu ihrer Kenntnis gelangen, der Regierung anzuzeigen.

Beschwerden einzelner Staatsbürger über Kränkung in ihren verfassungsmäßigen Gerechtsamen können von den Kammern nicht anders als schriftlich und nur dann angenommen werden, wenn der Beschwerdeführer nachweist, daß er sich vergebens an die geeigneten Landesstellen und zuletzt an das Staats‑Ministerium um Abhilfe gewendet hat.

Zu Beschwerden, welche die Beschuldigung einer Verletzung der Verfassung oder verfassungsmäßiger Rechte enthalten, ist die zweite Kammer allein befugt. Jedoch steht der ersten Kammer dasselbe Recht der Beschwerde an den Großherzog wegen Verletzung ihrer verfassungsmäßigen Rechte zu. Die Beschlüsse über derartige Beschwerden erfordern die in § 67a vorgeschriebene Stimmenmehrheit.

Zu anderen Vorstellungen an den Großherzog sind beide Kammern, sei es in Gemeinschaft, sei es jede für sich allein, berechtigt.

Eine Bitte um Vorlage eines Gesetzes darf nur dann von einer Kammer an den Großherzog gebracht werden, wenn dieselbe zuvor der andern Kammer mitgeteilt und dieser Gelegenheit gegeben worden ist, sich darüber auszusprechen.

 

IV a. Von den Anklagen gegen die Minister

(EINGEFÜGT DURCH GESETZ VOM 20. FEBRUAR 1868)

 

§ 67a – Die zweite Kammer hat das Recht, die Minister und Mitglieder der obersten Staatsbehörde wegen einer durch Handlungen oder Unterlassungen wissentlich oder aus grober Fahrlässigkeit begangenen Verletzung der Verfassung oder anerkannt verfassungsmäßiger Rechte, oder schweren Gefährdung der Sicherheit oder Wohlfahrt des Staates förmlich anzuklagen.

Ein solcher Beschluß erfordert die in den §§ 64 und 73 für Verfassungsänderungen vorgeschriebene Stimmenzahl; die Zurücknahme desselben kann mit einfacher Stimmenmehrheit geschehen.

Das Anklagerecht der zweiten Kammer wird durch die Entfernung des Angeklagten vom Dienste, mag sie vor oder nach erhobener Anklage erfolgen, nicht aufgehoben.

Im Falle der Verurtheilung ist die Entlassung des Angeklagten aus dem Staatsdienste zu erkennen.

Diese Folge der Verurtheilung kann nur auf Antrag oder mit Zustimmung der Stände wieder aufgehoben werden.

Ueber etwaige Entschädigungsforderungen steht dem Staatsgerichtshof keine Entscheidung zu.

§ 67b – Das Richteramt über die im vorigen Paragraphen erwähnte Anklage übt die Erste Kammer als Staatsgerichtshof in Verbindung mit dem Präsidenten des obersten Gerichtshofs und acht weitern Richtern aus, welche aus den Collegialgerichten durch das Loos bezeichnet und der Ersten Kammer beigeordnet werden.

Dem Angeklagten und den Vertretern der Anklage steht ein Ablehnungsrecht zu.

Der Präsident der Ersten Kammer hat den Vorsitz. Sein Stellvertreter ist der Präsident des obersten Gerichtshofes.

Das Nähere über die Bildung des Staatsgerichtshofes, sowie das Verfahren bei demselben, wird durch ein gemeines Gesetz bestimmt.(2)

§ 67c – Wird ein Minister oder ein Mitglied der obersten Staatsbehörde beschuldigt, zugleich mit den in § 67a erwähnten Verletzungen, oder auch ohne eine solche, ein Staatsverbrechen oder ein gemeines Verbrechen durch Mißbrauch seines Amts begangen zu haben, so ist die Zweite Kammer befugt, zu beantragen, daß der Staatsgerichtshof den Beschuldigten wegen dieses Vergehens vor das zuständige ordentliche Strafgericht zur Aburtheilung verweise.

Dieser Antrag ist in den in § 67a vorgeschriebenen Formen zu beschließen und mit der Anklage, wo eine solche stattfindet, zu verbinden, andernfalls aber selbstständig bei dem Staatsgerichtshof zu stellen.

§ 67d – Die während der Ständeversammlung von der Zweiten Kammer beschlossene Anklage wird auch nach der Vertagung oder dem Schlusse des Landtages von den erwählten Commissären verfolgt und die Erste Kammer gilt in Beziehung auf diesen Gegenstand nicht als vertagt oder geschlossen.

Dasselbe gilt von der Auflösung der Ständeversammlung, jedoch wird die Schlußverhandlung und Entscheidung über die Anklage bis nach Ablauf der in § 44 der Verfassungs‑Urkunde festgesetzten Frist verschoben.

§ 67e – Hat zur Zeit der Einberufung einer neuen Ständeversammlung der Staatsgerichtshof das Urtheil noch nicht gefällt, so wird derselbe neu gebildet und die Zweite Kammer wählt aufs Neue die Commissäre zur Vertretung der Anklage.

Erfolgt jetzt eine abermalige Auflösung, so bleibt die von der Zweiten Kammer gewählte Commission zur Vertretung der Anklage ermächtigt und ebenso der Staatsgerichtshof in dem früheren Bestand.

§ 67f – Das Recht der Anklage erlischt drei Jahre von dem Zeitpunkte, wo die verletzende Handlung zur Kenntnis des Landtages gekommen ist, wenn die Zweite Kammer jenes Recht nicht wenigstens durch den Beschluß, den Antrag auf Erhebung einer Anklage in Betracht zu ziehen, gewahrt hat.

Die Anklage kann ferner nicht mehr erhoben werden, wenn die Mehrheit der Zweiten Kammer jene Handlung gebilligt hat.

§ 67g – Verordnungen und Verfügungen des Großherzogs, welche sich auf die Regierung und Verwaltung des Landes beziehen, sind in der Urschrift von den zustimmenden Mitgliedern der obersten Staatsbehörde zu unterzeichnen und gelten nur als vollziehbar, wenn die Ausfertigung von einem Minister gegengezeichnet ist.

 

V. Eröffnung der Ständischen Sitzungen, Formen der Beratungen

 

§ 68 – unverändert.

§ 69 – (Gesetz vom 17. Februar 1849).

Sämtliche neu eintretende Mitglieder schwören bei Eröffnung des Landtags folgenden Eid:

Ich schwöre Treue dem Großherzog, Gehorsam dem Gesetze, Beobachtung und Aufrechterhaltung der Staatsverfassung‑ und in der Ständeversammlung nur des ganzen Landes allgemeines Wohl und Bestes, ohne Rücksicht auf besondere Stände oder Klassen, nach meiner inneren Ueberzeugung zu beraten: So wahr mir Gott helfe!

§ 70 – (Gesetz vom 24. August 1904).

Die Annahme eines Entwurfs, sowie die Ablehnung eines landesherrlichen Vorschlags können in jeder Kammer sowohl nach Vorberatung in einem besonderen Ausschusse, als auch ohne solche erfolgen, letzteres aber nur auf Grund einer zweimaligen, durch eine Zwischenzeit von mindestens drei Tagen getrennten Beratung und Abstimmung. Ein von der einen Kammer an die andere gebrachter Entwurf oder Vorschlag kann mit Verbesserungsvorschlägen an die andere Kammer zurückgegeben werden.

§ 71 – (Gesetz vom 24. August 1904).

Zur Gültigkeit der Beschlußfassung einer Kammer ist, wo nicht ausdrücklich Ausnahmen festgesetzt sind, die Zustimmung der absoluten Mehrheit der in gesetzlicher Anzahl anwesenden Mitglieder erforderlich.

Bei gleicher Stimmenzahl gibt die Stimme des Präsidenten die Entscheidung.

Die Stimmenzahl und das Verfahren bei den von den Kammern vorzunehmenden Wahlen wird, unbeschadet der in § 51 enthaltenen Vorschrift, durch die Geschäftsordnungen geregelt.

§ 72 – (Gesetz vom 24. August 1904).

Die erste Kammer wird durch die Anwesenheit von mindestens fünfzehn, die zweite Kammer durch die Anwesenheit von mindestens siebenunddreißig Mitgliedern, einschließlich der Präsidenten, beschlußfähig.

§ 73 – (Gesetz vom 24. August 1904).

Zur gültigen Abstimmung über Entwürfe, durch welche die Verfassung ergänzt, erläutert oder abgeändert werden soll, wird in beiden Kammern die Anwesenheit von mindestens drei Vierteln der Mitglieder erfordert.

Bei Berechnung der drei Viertel werden in der ersten Kammer die im § 27 Ziffer 1 bis 3 genannten Mitglieder, wenn sie in der betreffenden Sitzungsperiode am Landtage weder in Person, noch durch Stellvertreter teilnehmen, nicht gezählt.

§ 74 – (Gesetz vom 24. August 1904).

Zur Gültigkeit einer Gesamtabstimmung nach § 61 Absatz 4 wird erfordert, daß in jeder Kammer die zur Beschlußfassung nötige Zahl von Mitgliedern anwesend ist.

Der Entwurf gilt als angenommen, wenn sich bei der Durchzählung die Mehrheit der in beiden Kammern abgegebenen Stimmen dafür ausgesprochen hat; bei Stimmengleichheit entscheidet die Stimme des Präsidenten der zweiten Kammer.

§ 75 – (Gesetz vom 24. August 1904).

Außer bei der Eröffnung und bei der Schließung des Landtags dürfen die beiden Kammern nicht zusammentreten.

Wenn aber die Beschlüsse beider Kammern voneinander abweichen, kann auf Anregung der einen oder andern Seite durch Vermittelung der Präsidenten zum Zweck einer Verständigung ein Zusammentritt der beiderseitigen Kommissionen stattfinden.

Beide Kammern beschränken sich in ihrem Verhältnis zueinander auf die gegenseitige Mitteilung ihrer Beschlüsse.

Sie stehen nur mit dem Großherzoglichen Staats‑Ministerium in unmittelbarer Geschäftsberührung; sie können keine Verfügungen treffen oder Bekanntmachungen irgend einer Art erlassen.

Deputationen dürfen sie nur, jede besonders, nach eingeholter Erlaubnis, an den Großherzog abordnen.

§ 76 – (Gesetz vom 21. Dezember 1869).

Die Minister und Mitglieder des Staatsministeriums und Großherzoglichen Kommissarien haben jederzeit bei öffentlicher und geheimer Sitzung der Kammern Zutritt und müssen bei allen Diskussionen gehört werden, wenn sie es verlangen.

Wenn eine Vorberatung in einem besonderen Ausschuß stattfindet, so treten zur vorläufigen Erörterung der Entwürfe die landesherrlichen Kommissarien mit den ständischen Ausschüssen zusammen, so oft es von der einen oder anderen Seite für notwendig erachtet wird. Keine wesentliche Abänderung in einem Gesetzentwurf kann getroffen werden, die nicht mit den landesherrlichen Kommissarien in einem solchen gemeinschaftlichen Zusammentritt erörtert worden ist.

§§ 77, 78unverändert.

§ 79 – (Gesetz vom 24. August 1904).

Die vierjährige Landtagsperiode zerfällt in zwei Sitzungsperioden von je zweijähriger Dauer. In jeder Sitzungsperiode wird über das Finanzgesetz Beschluß gefaßt.

Ist der Landtag während der Sitzungsperiode aufgelöst worden, ehe über das Finanzgesetz Beschluß gefaßt war, so wird für den neu berufenen Landtag die Dauer der ersten Sitzungsperiode und der Mitgliedschaft so berechnet, wie wenn die Wahl bei Beginn derjenigen Sitzungsperiode, in welcher der letzte Landtag aufgelöst wurde, stattgefunden hätte.

Ist die Auflösung nach der Beschlußfassung über das Finanzgesetz erfolgt, so wird der Rest der noch nicht abgelaufenen Sitzungsperiode der vierjährigen Landtagsperiode des neuen Landtags zugeschlagen.

Die Vorschrift des § 37 Absatz 2 findet auch im Fall der Auflösung Anwendung.

§§ 80 – 83unverändert.

 

 

 

(1) Dazu Landtagswahlgesetz, Wahlkreisgesetz und landesherrliche Vollzugsanordnung zu diesen Gesetzen vom 24. August 1904.

(2) Dazu Gesetz vom 11. Dezember 1869, das Verfahren bei Ministerklagen betreffend.

 

 

 

 

 

FONTE:

http://www.verfassungen.de/



Download in formato Word

Torna su