VERFASSUNG FÜR WÜRTTEMBERG-BADEN

VOM 28. NOVEMBER 1946

(Regierungsblatt S. 277 ff.)

 

 

(Vorspruch)

 

In einer Zeit großer äußerer und innerer Not hat das Volk von Württemberg und Baden im Vertrauen auf Gott sich diese Verfassung gegeben als ein Bekenntnis zu der Würde und zu den ewigen Rechten des Menschen, als einen Ausdruck des Willens zu Einheit, Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit.

 

Erster Hauptteil

Vom Menschen und Seinen Ordnungen

 

I. Die Grundrechte

 

Art. 1 – Der Mensch ist berufen, in der ihn umgebenden Gemeinschaft seine Gaben in Freiheit und in der Erfüllung des ewigen Sittengesetzes zu seinem und der anderen Wohl zu entfalten.

Der Staat hat die Aufgabe, ihm hierbei zu dienen. Er faßt die auf seinem Gebiet lebenden Menschen zu einem geordneten Gemeinwesen zusammen. Er gewährt ihnen Schutz und Förderung und bewirkt durch Gesetz und Gebot einen Ausgleich der wechselseitigen Rechte und Pflichten.

Art. 2 – Alle Menschen ohne Unterschied des Geschlechts und der Herkunft sind frei und gleich vor dem Gesetz.

Darum ist dem Menschen zu tun gestattet, was nicht gegen Recht oder Ehre eines anderen oder gegen die Ordnung des Gemeinwesens verstößt.

Diese Freiheit kann nur durch Gesetz eingeschränkt werden. Das Gesetz gewährt hierbei allen gleiche Rechte.

Niemand kann zu Handlungen gezwungen werden, zu denen ihn nicht das Gesetz verpflichtet.

Art. 3 – Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Ausnahmegerichte und Sondergerichte sind unzulässig.

Art. 4 – Strafen können nur verhängt werden auf Grund von Gesetzen, die zur Zeit der Begehung der Tat in Geltung waren.

Ein Beschuldigter gilt solange nicht als schuldig, als er nicht von einem ordentlichen Gericht schuldig gesprochen ist.

Niemand darf zweimal wegen der selben Tat gerichtlich bestraft werden.

Art. 5 – Niemand darf verfolgt, festgenommen oder in Haft gehalten werden, außer in Fällen, die das Gesetz bestimmt, und in den von diesem vorgeschriebenen Formen. Niemand darf in Haft gehalten werden, ohne innerhalb von 48 Stunden einem Richter vorgeführt zu werden, der die Rechtmäßigkeit der Festnahme zu prüfen hat. Soll die Haft länger als einen Monat dauern, so ist sie jeden Monat durch eine begründete Entscheidung des Richters erneut zu bestätigen.

Art. 6 – Die Wohnung ist unverletzlich. Durchsuchungen können nur durch den Richter, bei Gefahr im Verzug im Rahmen der Strafprozeßordnung auch durch die darin vorgesehenen Organe angeordnet werden.

Zur Behebung der Wohnungsnot, zur Bekämpfung von Seuchengefahr, zum Schutz gefährdeter Jugendlicher und zur Durchführung der Bewirtschaftung lebenswichtiger Güter können die Verwaltungsbehörden durch Gesetz zu Eingriffen und Einschränkungen ermächtigt werden.

Art. 7 – Das Brief-, Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis ist unverletzlich. Auf dem Gebiet des Prozeßrechts, Konkursrechts, Zollrechts, Devisenrechts und Postrechts können durch Gesetz Ausnahmen angeordnet werden. Ausnahmebestimmungen aus politischen Gründen sind unzulässig.

Art. 8 – Das Eigentum wird gewährleistet. Jedermann darf auf Grund der Gesetze Eigentum erwerben und darüber verfügen.

Durch Arbeit und Sparsamkeit erworbenes Eigentum genießt besonderen Schutz.

Eigentum verpflichtet gegenüber der Gemeinschaft. Sein Gebrauch darf dem Gemeinwohl nicht zuwiderlaufen.

Eigentum darf nur im öffentlichen Interesse durch Gesetz, nur in dem darin vorgesehenen Verfahren und im Regelfalle nur gegen angemessene Entschädigung eingeschränkt oder entzogen werden. Soweit die Gesetze nichts anderes bestimmen, sind für Streitigkeiten über Art und Höhe der Entschädigung die ordentlichen Gerichte zuständig.

Art. 9 – Das Erbrecht wird gewährleistet. Inhalt und Grenzen bestimmt das Gesetz.

Art. 10 – Niemand darf seiner Abstammung, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen wegen bevorzugt oder benachteiligt werden.

Alle Menschen genießen volle Gewissens- und Glaubensfreiheit. Sie können ihre Religion frei ausüben und sich zu Religionsgemeinschaften vereinigen.

Art. 11 – Jedermann hat das Recht, innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes seine Meinung durch Rede, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern, solange er die durch die Verfassung gewährten Freiheiten nicht durch Mißbrauch dieses Rechtes bedroht oder verletzt.

Jedermann hat das Recht, sich über die Meinung anderer frei zu unterrichten. Die Kenntnisnahme von Mitteilungen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind, darf nicht verwehrt werden.

Art. 12 – Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes frei.

Art. 13 – Jedermann hat das Recht, sich an die zuständige Behörde oder schriftlich an die Volksvertretung zu wenden, um eine Prüfung von Fragen zu veranlassen, die das Interesse des einzelnen oder der Gesamtheit angehen.

Art. 14 – Allen Staatsbürgern steht das Recht zu, sich ohne Anmeldung und ohne besondere Erlaubnis friedlich und unbewaffnet zu versammeln.

Versammlungen unter freiem Himmel können durch Gesetz anmeldungspflichtig gemacht und bei unmittelbarer Gefahr für die öffentliche Sicherheit verboten werden.

Art. 15 – Alle Staatsbürger haben das Recht, sich zu Zwecken, die den Gesetzen nicht zuwiderlaufen, frei zusammenzuschließen, sofern nicht ihr Zusammenschluß die durch die Verfassung gewährten Freiheiten bedroht oder verletzt.

Niemand darf gezwungen werden, sich einer Vereinigung anzuschließen. Es können jedoch durch Gesetz Berufe, deren Ausübung behördlicher Anerkennung bedarf, zusammengeschlossen werden. Ebenso können durch Gesetz Angehörige von Berufs­- und Wirtschaftszweigen zusammengeschlossen werden, wenn das Gemeinwohl es dringend gebietet.

 

II. Die Familie

 

Art. 16 – Ehe und Familie genießen als die wichtigsten Grundlagen der Volksordnung den besonderen Schutz und die Förderung des Staates. Das Leben der Familie soll sich frei von äußerem Zwang und störenden Eingriffen entfalten.

Die der Familie gewidmete häusliche Arbeit der Frau wird der Berufsarbeit gleich geachtet. An dem während der Ehe erworbenen Vermögen soll der Frau ein güterrechtlicher Anteil zustehen.

Kinderreiche Familien haben Anspruch auf angemessenen Ausgleich.

Art. 17 – Die Erziehung der Kinder zu leiblicher, geistiger und seelischer Tüchtigkeit ist das natürliche Recht und die oberste Pflicht der Eltern.

Elternlose Kinder, die nicht in einer Familie aufwachsen können, sind in Heime aufzunehmen, die ihnen ein gesundes Familienleben ersetzen sollen.

Art. 18 – Im beruflichen und öffentlichen Leben stehen eheliche und uneheliche Kinder gleich.

Art. 19 – Die Jugend ist gegen Ausbeutung sowie gegen Gefährdung ihrer sittlichen, geistigen und körperlichen Wohlfahrt zu schützen. Staat und Gemeinde haben die erforderlichen Einrichtungen zu schaffen. Ihre Aufgaben können durch Einrichtungen der freien Wohlfahrt wahrgenommen werden.

Fürsorgemaßnahmen im Wege des Zwanges sind nur auf gesetzlicher Grundlage zulässig.

 

III. Die Sozial- und Wirtschaftsordnung

 

Art. 20 – Die Arbeit ist sittliche Pflicht. Sie steht unter dem besonderen Schutz des Staates. Jedermann soll durch eigene Arbeit seinen Unterhalt erwerben können.

Männer und Frauen stehen bei Wahl und Ausübung des Berufes gleich. Bei gleicher Leistung ist gleicher Lohn zu gewähren.

Die gewerbsmäßige Kinderarbeit ist verboten.

Art. 21 – Die Sonntage und die staatlich anerkannten Feiertage stehen als Tage der Ruhe unter gesetzlichem Schutz.

Der 1. Mai ist gesetzlicher Feiertag als Bekenntnis zu sozialer Gerechtigkeit, zu Fortschritt, Frieden, Freiheit und Völkerverständigung.

Art. 22 – Es ist ein Arbeitsrecht zu schaffen, das dem Arbeitnehmer einen gerechten Lohn, ausreichende Freizeit und Urlaub gewährleistet.

Vertreter der Arbeitnehmer sind an der Verwaltung und Gestaltung der Betriebe zu beteiligen. Auf die besonderen Verhältnisse der Klein- und Mittelbetriebe und die Erhaltung der Initiative ihrer Unternehmer ist dabei Rücksicht zu nehmen. Das Nähere regelt das Gesetz.

Art. 23 – Alle Berufstätigen dürfen sich zur Wahrung und Durchsetzung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Interessen in Verbänden zusammenschließen.

Die Arbeiter und Angestellten sind dazu berufen, gleichberechtigt in Gemeinschaft mit den Unternehmern an der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen, sowie an der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte mitzuwirken. Die beiderseitigen Organisationen und ihr Recht, Vereinbarungen zu treffen, werden anerkannt.

Das Streikrecht der Gewerkschaften im Rahmen der Gesetze wird anerkannt. Dieses Recht einschränkende und hemmende Abreden und Maßnahmen sind nichtig.

Die aus der Stellung der öffentlichen Beamten sich ergebenden besonderen Pflichten bleiben unberührt.

Art. 24 – Jeder durch Krankheit, Alter oder andere Ursachen unverschuldet in Not geratene Mensch hat Anspruch auf Schutz und Hilfe durch Staat und Gemeinde.

Die Sozialversicherung ist zu erhalten, weiter auszubauen und in besonderen Notfällen durch staatliche Hilfe zu stützen.

Vermögen, das für soziale Versicherungseinrichtungen angesammelt wird, darf nicht für andere Aufgaben verwendet werden.

Art. 25 – Die Wirtschaft des Landes hat der Befriedigung des Bedarfs der Bevölkerung zu dienen. Zu diesem Zweck können durch Gesetz Erzeugungs- und Bewirtschaftungsmaßnahmen angeordnet werden. Innerhalb der hierdurch gezogenen Grenzen ist die wirtschaftliche Betätigung frei.

Zur Ordnung der wirtschaftlichen Angelegenheiten werden Körperschaften geschaffen, an denen Unternehmer und Arbeitnehmer und, soweit erforderlich, Erzeuger und Verbraucher gleichmäßig zu beteiligen sind.

Der Genossenschaftsgedanke ist zu fördern. Gemeinnützige Genossenschaften sind steuerlich zu begünstigen.

Art. 26 – Der Staat hat die Landwirtschaft als die Grundlage der Volksernährung, insbesondere die Erhaltung eines selbständigen Bauernstandes, mit allen geeigneten Mitteln zu fördern.

Art. 27 – Das Handwerk ist vom Staat mit allen geeigneten Mitteln zu fördern und zu schützen.

Art. 28 – Kann der Wirtschaftszweck besser ohne Eigentum des Unternehmers an Produktionsmitteln erreicht werden oder widerstreitet die Ausübung des Eigentumsrechts dem Gemeinwohl, so sollen geeignete Unternehmungen und Wirtschaftszweige durch Gesetz in Gemeineigentum überführt werden.

Art und Höhe der Entschädigung ist in solchen Fällen in Abwägung der berechtigten Interessen der Allgemeinheit und des Betroffenen nach billigem Ermessen festzusetzen.

 

IV. Religion und Religionsgemeinschaften

 

Art. 29 – Die Bedeutung der Kirchen und der anerkannten Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften für die Bewahrung und Festigung der religiösen und sittlichen Grundlagen des menschlichen Lebens wird anerkannt. Sie ordnen und verwalten ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes und dürfen sich hierbei frei entfalten. Sie verleihen ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde.

Die Einrichtungen und Veranstaltungen der in diesem Artikel der Verfassung anerkannten Kirchen und Gemeinschaften dürfen nicht zu parteipolitischen Zwecken mißbraucht werden. Die staatsbürgerlichen Rechte und die pflichtmäßige religiös-sittliche Wirksamkeit der Beauftragten der Kirchen und Religionsgemeinschaften im öffentlichen Leben bleiben davon unberührt.

Die Voraussetzungen für die Anerkennung einer Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft bestimmt das Gesetz.

Art. 30 – Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren. Die Behörden haben nur so weit das Recht, nach der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft zu fragen, als davon Rechte und Pflichten abhängen oder eine gesetzlich angeordnete statistische Erhebung es erfordert.

Niemand darf zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit, zur Beteiligung an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen werden.

Art. 31 – Religionsgemeinschaften, die bisher Körperschaften des öffentlichen Rechts waren, bleiben es weiterhin. Anderen Religionsgemeinschaften und den Weltanschauungsgemeinschaften sind auf ihren Antrag gleiche Rechte zu gewähren, wenn sie auf Grund ihrer Verfassung und der Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten.

Schließen sich mehrere öffentlich-rechtliche Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu einem Verband zusammen, so ist auch dieser Verband eine öffentlich-rechtliche Körperschaft.

Anerkannte Religionsgemeinschaften, die Körperschaften des öffentlichen Rechts sind, haben das Recht, auf Grund der amtlichen Steuerlisten Steuern zu erheben.

Art. 32 – Das Eigentum und andere Rechte der anerkannten Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften an ihren für Kult-, Erziehungs- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und sonstigen Vermögen werden gewährleistet. Die von diesen Gemeinschaften oder ihren Organisationen unterhaltenen Krankenhäuser, Schulen, Fürsorgeanstalten und ähnlichen Häuser gelten als gemeinnützige Einrichtungen.

Art. 33 – Die öffentliche und ungestörte Religionsausübung und die Wohlfahrtspflege der Religionsgemeinschaften werden gewährleistet. Ihre gottesdienstlichen Feiern können von jedermann unbehindert besucht und dürfen von niemand gestört werden.

Die freie Religionsausübung in den öffentlichen Krankenhäusern, Wohlfahrts- und Fürsorgeanstalten sowie in den Strafanstalten wird geschützt und gefördert.

Art. 34 – Die dauernden Verpflichtungen des Staates zu wiederkehrenden Leistungen an die Kirchen bleiben dem Grunde nach gewährleistet.

Art und Höhe dieser Leistungen werden durch Gesetz oder Vertrag geregelt.

Eine endgültige allgemeine Regelung der Leistungen des Staates soll durch Gesetz oder Vertrag festgelegt werden.

 

V. Erziehung und Unterricht

 

Art. 35 – Jeder junge Mensch hat seiner Begabung entsprechend das Recht auf Bildung und die Pflicht zur Bildung. Es ist Aufgabe des Staates, die der Verwirklichung dieses Grundsatzes entgegenstehenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Hemmungen zu beseitigen. Der Zugang zu den mittleren und höheren Schulen sowie zu den Hochschulen ist begabten Kindern zu ermöglichen. Staat und Gemeinden haben ausreichende öffentliche Mittel, insbesondere auch Erziehungsbeihilfen, bereit zu stellen.

Art. 36 – Die Jugend ist in der Ehrfurcht vor Gott, im Geiste der Brüderlichkeit aller Menschen und in der Liebe zu Volk und Heimat zu sittlicher und politischer Verantwortlichkeit, zu beruflicher und sozialer Bewährung und zu freiheitlicher demokratischer Gesinnung zu erziehen.

Verantwortliche Träger der Erziehung sind in ihren Bereichen die Eltern, der Staat, die Religionsgemeinschaften und die in ihren Bünden gegliederte Jugend selbst.

Art. 37 – Es besteht allgemeine Schulpflicht. Der Unterricht und die Lernmittel in den Volksschulen und in den Berufsschulen sind unentgeltlich.

Der Staat stellt die erforderlichen Schulen zur Verfügung.

Die öffentlichen Volksschulen sind christliche Gemeinschaftsschulen. In ihnen sollen in Erziehung und Unterricht auch die geistigen und sittlichen Werte der Humanität und des Sozialismus zur Geltung kommen. Ergeben sich bei der Auslegung des christlichen Charakters der Volksschulen Zweifelsfragen, so liegt, unbeschadet der Rechte der Religionsgemeinschaften in der Erteilung und Beaufsichtigung des Religionsunterrichts, die Klärung und Entscheidung bei den staatlichen Organen. Der Unterricht wird sämtlichen Schülern gemeinsam erteilt mit Ausnahme des Religionsunterrichts, wenn die Schüler verschiedenen religiösen Bekenntnissen angehören. Bei der Bestellung der Lehrer soll auf das religiöse und weltanschauliche Bekenntnis der Schüler möglichst Rücksicht genommen werden, jedoch dürfen die nicht bekenntnismäßig gebundenen Lehrer nicht benachteiligt werden.

In der Schule waltet der Geist der Duldsamkeit und der sozialen Ethik.

Das Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates. Die Schulaufsicht wird durch hauptamtlich tätige, fachmännisch vorgebildete Beamte ausgeübt.

Art. 38 – Privatschulen werden zugelassen, wenn sie den in den Schulgesetzen vorgesehenen allgemeinen Anforderungen genügen.

Prüfungen, auf Grund deren irgendeine Berechtigung erworben werden soll, müssen vor staatlichen oder staatlich ermächtigten Behörden abgelegt werden.

Art. 39 – Der Religionsunterricht ist ordentliches Lehrfach an den Schulen. Er wird nach den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften und, unbeschadet des allgemeinen Aufsichtsrechts des Staates, von deren Beauftragten erteilt und beaufsichtigt. Die Teilnahme am Religionsunterricht und an religiösen Schulfeiern bleibt der Willenserklärung der Erziehungsberechtigten, die Erteilung des Religionsunterrichts der des Lehrers überlassen.

Art. 40 – Die Hochschule untersteht der Aufsicht des Staates. Sie hat das Recht der Selbstverwaltung nach Maßgabe der Gesetze sowie das Recht, bei der Ergänzung des Lehrkörpers durch ihre Vorschläge mitzuwirken.

Art. 41 – Staatsbürgerkunde auf der Grundlage der Verfassung ist ordentliches Lehrfach aller Schularten.

Jedem Schüler ist beim Abgang aus der Schule ein Abdruck der Verfassung in feierlicher Weise zu überreichen.

Art. 42 – Die Erwachsenenbildung einschließlich der Volkshochschulen und des Volksbüchereiwesens wird vom Staat gefördert.

 

Zweiter Hauptteil

Vom Staat

 

I. Die Grundlagen des Staates

 

Art. 43 – Württemberg-Baden ist ein demokratischer und sozialer Volksstaat. Er ist ein Glied der deutschen Republik.

Art. 44 – Das Staatsgebiet besteht derzeit aus den in der Anlage aufgeführten Gebietsteilen der Länder Württemberg und Baden.

Entsprechend seiner früheren Zugehörigkeit zu Württemberg und Baden gliedert sich derzeit das Staatsgebiet in die Landesbezirke Württemberg und Baden, deren gleiche Gliederung und Selbstverwaltung gesichert und durch Gesetz geregelt werden.

Art. 45 – Die Staatsfarben sind Schwarz-Rot-Gold.

Art. 46 – Die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts sind bindende Bestandteile des Landesrechts. Sie sind für den Staat und für den einzelnen Staatsbürger verbindlich.

Die durch das Völkerrecht Ausländern verbrieften Rechte können von diesen geltend gemacht werden, auch wenn sie nicht durch Landesgesetz ausgesprochen sind.

Art. 47 – Jede Handlung, die mit der Absicht vorgenommen wird, eine friedliche Zusammenarbeit der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Krieges vorzubereiten, ist verfassungswidrig.

Art. 48 – Die Staatsgewalt wird nach den Bestimmungen dieser Verfassung durch die stimm- und wahlberechtigten Staatsbürger und die von ihnen unmittelbar und mittelbar bestellten Organe ausgeübt.

Die einzelnen Teile der Staatsgewalt – Gesetzgebung, Rechtsprechung und vollziehende Gewalt – dürfen nicht bei einem Organ vereinigt sein.

Art. 49 – Stimm- und wahlberechtigt sind alle Staatsbürger, die am Tage der Abstimmung oder der Wahl das 21. Lebensjahr vollendet haben und seit mindestens einem Jahr ihren Wohnsitz im Staatsgebiet haben. Vom Stimm- und Wahlrecht ist ausgeschlossen, 1. wer entmündigt ist oder unter vorläufiger Vormundschaft oder wegen geistiger Gebrechen unter Pflegschaft steht, 2. wer nicht im Vollbesitz der staatsbürgerlichen Rechte ist. Das Nähere wird durch Gesetz geregelt.

Die Ausübung des Stimm- und Wahlrechts ist allgemeine Bürgerpflicht.

Alle auf Grund dieser Verfassung durch das Volk vorzunehmenden Wahlen und Abstimmungen sind allgemein, gleich, unmittelbar und geheim.

Der Wahltag muß ein Sonntag sein.

 

II. Der Landtag

 

Art. 50 – Der Landtag ist die vom ganzen Volk gewählte Volksvertretung. Er beschließt die Gesetze und überwacht ihre Ausführung.

Art. 51 – Der Landtag besteht aus 100 Abgeordneten. Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes. Sie sind nur ihrem Gewissen unterworfen und an Auftrage nicht gebunden.

Die Abgeordneten erhalten nach einem besonderen Gesetz eine Entschädigung, die ihre Unabhängigkeit gewährleistet, und freie Fahrt auf allen staatlichen Verkehrseinrichtungen des Landes.

Art. 52 – Die Abgeordneten werden von den wahlberechtigten Staatsbürgern nach den Grundsätzen der Verhältniswahl, getrennt nach Kreisen, gewählt. Es können je zwei Kreise zu einem Wahlbezirk zusammengelegt werden.

Wählbar ist jeder Wahlberechtigte, der das 25. Lebensjahr vollendet hat.

Die Zuteilung von Mandaten kann von der Erreichung eines Hundertsatzes der im Lande abgegebenen gültigen Stimmen abhängig gemacht werden, der zehn vom Hundert nicht überschreiten darf.

Das Nähere bestimmt das Landtagswahlgesetz.

Art. 53 – Der Landtag wird auf vier Jahre gewählt. Die Neuwahlen müssen vor Ablauf der Wahlperiode stattfinden.

Art. 54 – Wer zum Abgeordneten gewählt ist, kann die Wahl ablehnen oder nachträglich auf die Mitgliedschaft im Landtag verzichten. Der Verzicht ist dem Präsidenten des Landtags durch den Abgeordneten persönlich zu erklären. Die Erklärung ist unwiderruflich.

Verliert der Abgeordnete die Wählbarkeit, so erlischt seine Mitgliedschaft im Landtag.

Art. 55 – Der Landtag tritt spätestens am sechzehnten Tage nach der Wahl zusammen.

Er prüft die Vollmacht seiner Mitglieder und entscheidet über sie.

Ist eine Wahl angefochten oder wird streitig, ob ein Mitglied des Landtags das Recht der Mitgliedschaft verloren hat, so entscheidet der Staatsgerichtshof.

Art. 56 – Der Landtag wählt seinen Präsidenten, dessen Stellvertreter und seine Schriftführer. Er gibt sich für jede Wahlperiode eine Geschäftsordnung. Er ist hierbei im Rahmen der Verfassung frei. Der Landtag kann beschließen, daß die Geschäftsordnung nur mit Zweidrittelmehrheit abgeändert werden kann.

Zwischen zwei Tagungen oder Wahlperioden führt der Präsident der letzten Tagung oder sein Stellvertreter die Geschäfte fort.

Art. 57 – Der Präsident des Landtags hat das Recht, den Landtag einzuberufen. Er muß ihn unverzüglich einberufen, wenn es die Regierung oder mindestens ein Drittel der Mitglieder des Landtags verlangt.

Art. 58 – Der Landtag ist vor Ablauf der Wahlperiode durch die Regierung alsbald aufzulösen, wenn es von 100.000 stimmberechtigten Staatsbürgern verlangt wird und wenn bei der binnen eines Monats vorzunehmenden Volksabstimmung die Mehrheit der stimmberechtigten Staatsbürger diesem Verlangen beigetreten ist.

Die Neuwahl findet spätestens am sechzigsten Tage nach der Auflösung statt.

Art. 59 – Die Verhandlungen des Landtags sind öffentlich. Die Öffentlichkeit wird ausgeschlossen, wenn der Landtag es auf Antrag von zehn Mitgliedern oder eines Ministers mit Zweidrittelmehrheit beschließt.

Art. 60 – Wegen wahrheitsgetreuer Berichte über die Verhandlungen in den öffentlichen Sitzungen des Landtags und seiner Ausschüsse kann niemand zur Verantwortung gezogen werden.

Art. 61 – Der Landtag ist beschlußfähig, wenn die Mehrheit der Mitglieder anwesend ist. Er beschließt mit Stimmenmehrheit, wenn die Verfassung nich anderes Stimmenverhältnis vorschreibt.

Art. 62 – Der Landtag hat das Recht und auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder die Pflicht, Untersuchungsausschüsse einzusetzen.

Diese Ausschüsse und die von ihnen ersuchten Behörden können in entsprechender Anwendung der Strafprozeßordnung alle erforderlichen Beweise erheben, insbesondere Zeugen und Sachverständige vorladen, vernehmen, vereidigen und das Zeugniszwangsverfahren gegen sie durchführen. Das Brief-, Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis bleibt jedoch unberührt. Die Gerichts- und Verwaltungsbehörden sind verpflichtet, dem Ersuchen dieser Ausschüsse um Beweiserhebung Folge zu leisten. Die Akten der Behörden sind ihnen auf Verlangen vorzulegen.

Die Untersuchungsausschüsse verhandeln öffentlich, jedoch wird die Öffentlichkeit durch Beschluß einer Zweidrittelmehrheit ausgeschlossen. Auf Antrag der Staatsregierung ist die Öffentlichkeit auszuschließen für die Dauer der Begründung eines von ihr gestellten Antrags auf Ausschluß der Öffentlichkeit.

Art. 63 – Der Landtag bestellt zur Wahrung der Rechte der Volksvertretung gegenüber der Staatsregierung und zur Behandlung dringlicher Staatsangelegenheiten für die Zeit außerhalb der Tagungen und nach Beendigung der Wahlperiode sowie nach der Auflösung des Landtags bis zum Zusammentritt des neuen Landtags einen Zwischenausschuß. Dieser Ausschuß hat die Befugnisse des Landtags, jedoch kann er weder Ministeranklage erheben noch Gesetze beschließen oder der Regierung das Vertrauen entziehen.

Art. 64 – Der Ministerpräsident und jeder Minister muß auf Verlangen des Landtags und seiner Ausschüsse an den Sitzungen teilnehmen.

Der Ministerpräsident, die Minister und ihre Bevollmächtigten haben jederzeit Zutritt zu den Sitzungen des Landtags und seiner Ausschüsse und müssen gehört werden, wenn sie es verlangen.

Art. 65 – Kein Mitglied des Landtags darf zu irgendeiner Zeit wegen seiner Abstimmung oder wegen der in Ausübung seines Mandats getanen Äußerungen gerichtlich oder dienstlich verfolgt oder sonst außerhalb der Versammlung zur Verantwortung gezogen werden.

Art. 66 – Kein Mitglied des Landtags kann ohne Genehmigung des Landtags während der Wahlperiode wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung oder aus sonstigen Gründen zur Untersuchung gezogen, festgenommen, festgehalten oder verhaftet werden, es sei denn, daß das Mitglied bei Verübung einer strafbaren Handlung oder spätestens im Laufe des folgenden Tages festgenommen worden ist.

Jedes Strafverfahren gegen ein Mitglied des Landtags und jede Haft oder sonstige Beschränkung seiner persönlichen Freiheit ist auf Verlangen des Landtags für die Dauer der Wahlperiode aufzuheben.

Diese Bestimmungen gelten für den Präsidenten des Landtags, seine Stellvertreter und für die Mitglieder des Zwischenausschusses in der Zeit zwischen zwei Wahlperioden entsprechend. Die Rechte des Landtags werden durch den Zwischenausschuß ausgeübt.

Art. 67 – Die Mitglieder des Landtags sind berechtigt, über Personen, die ihnen oder denen sie in ihrer Eigenschaft als Abgeordnete Tatsachen anvertraut haben, sowie über diese Tatsachen selbst das Zeugnis zu verweigern. Auch in Beziehung auf Beschlagnahme von Schriftstücken stehen sie den Personen gleich, die ein gesetzliches Zeugnisverweigerungsrecht haben.

Eine Durchsuchung oder Beschlagnahme in den Räumen des Landtags darf nur mit Zustimmung des Präsidenten vorgenommen werden.

Art. 68 – Abgeordnete dürfen an der Übernahme und Ausübung ihres Mandats nicht gehindert werden. Insbesondere ist unzulässig, sie aus ihrem Amt oder Arbeitsverhältnis zu entlassen oder ihnen zu kündigen.

Beamte, Angestellte und Arbeiter bedürfen zu der mit den Obliegenheiten ihres Mandats als Mitglieder des Landtags verbundenen Tätigkeit keines Urlaubs.

Bewerben sie sich um einen Sitz im Landtag, so ist ihnen der zur Vorbereitung ihrer Wahl erforderliche Urlaub zu gewähren.

 

III. Die Regierung

 

Art. 69 – Die vollziehende Gewalt wird durch die Regierung ausgeübt, die aus dem Ministerpräsidenten und den Ministern besteht.

Die Zahl der Minister und der Geschäftskreis der Ministerien werden durch Gesetz bestimmt.

Art. 70 – Der Ministerpräsident wird vom Landtag mit mehr als der Hälfte der gesetzlichen Zahl seiner Mitglieder gewählt.

Der Ministerpräsident ernennt und entläßt die Minister und bestellt seinen Stellvertreter. Die Regierung bedarf der Bestätigung des Landtags; der Beschluß muß mit einer nach Abs. 1 zu berechnenden Mehrheit gefaßt werden.

Die Regierung erklärt beim Zusammentritt eines neuen Landtags ihren Rücktritt.

Art. 71 – Beim Amtsantritt leisten der Ministerpräsident und die Minister vor dem Landtag den Amtseid nach Artikel 96.

Art. 72 – Der Ministerpräsident bestimmt die Richtlinien der Politik, führt den Vorsitz in der Regierung und leitet ihre Geschäfte.

Innerhalb der Richtlinien der Politik leitet jeder Minister seinen Geschäftskreis selbständig.

Art. 73 – Die Regierung bedarf zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Landtags. Entzieht ihr der Landtag mit mehr als der Hälfte der gesetzlichen Zahl seiner Mitglieder sein Vertrauen, so muß sie ihren Rücktritt erklären. Der Rücktritt wird erst rechtswirksam, wenn der Landtag einer neuen Regierung das Vertrauen ausspricht.

Der Ministerpräsident, die Regierung und die Minister können jederzeit ihren Rücktritt erklären. Im Falle des Rücktritts sind die Geschäfte bis zur Neubildung einer Regierung oder bis zur Neuernennung des Ministers weiterzuführen.

Art. 74 – Der Ministerpräsident vertritt den Staat nach außen. Der Abschluß von Staatsverträgen bedarf der Zustimmung der Regierung und des Landtags.

Art. 75 – Der Ministerpräsident ernennt und entläßt die Beamten. Dieses Recht kann durch Gesetz auf andere Behörden übertragen werden.

Art. 76 – Die Regierung hat das Recht, im Wege der Gnade rechtskräftig erkannte Strafen zu erlassen oder zu mildern. Sie kann dieses Recht, soweit es sich nicht um schwere Fälle handelt, den Ministern innerhalb ihres Geschäftskreises übertragen.

Eine Amnestie bedarf des Gesetzes.

Art. 77 – Die Minister haben der Regierung alle Gesetzentwürfe und alle Angelegenheiten, bei denen Verfassung oder Gesetz es vorschreiben, sowie Meinungsverschiedenheiten über Fragen, die den Geschäftskreis mehrerer Ministerien berühren, zur Beratung und Beschlußfassung zu unterbreiten.

Art. 78 – Die Regierung beschließt mit Stimmenmehrheit. Bei Stimmengleichheit entscheidet die Stimme des Vorsitzenden.

Art. 79 – Bei gegenwärtiger Gefahr für den Bestand des Staates kann die Regierung für die Dauer einer Woche die Grundrechte der Art. 2 Abs. 3, 5, 6, 7, 8, 11 und 14 ganz oder zum Teil außer Kraft setzen und Verordnungen mit Gesetzeskraft erlassen.

Von allen nach Abs. 1 getroffenen Maßnahmen hat die Regierung binnen 48 Stunden dem Landtag Kenntnis zu geben.

Bestätigt der Landtag mit der Mehrheit der gesetzlichen Zahl seiner Mitglieder die getroffenen Maßnahmen, so wird ihre Geltung um einen Monat verlängert. Weitere je auf einen Monat befristete Verlängerungen bedürfen der für Verfassungsänderungen erforderlichen Mehrheit.

Während der Dauer der Notstandsmaßnahmen dürfen politische Wahlen nicht stattfinden. Die Wahlperioden des Landtags, der Kreistage und der Gemeindevertretungen werden bis zur Beseitigung des Notstandes verlängert.

Art. 80 – Die Minister können wegen vorsätzlicher oder grobfahrlässiger Verletzung der Verfassung oder eines Gesetzes oder wegen schwerer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder der Wohlfahrt des Staates auf Beschluß des Landtags vor dem Staatsgerichtshof angeklagt werden.

Der Antrag auf Erhebung der Anklage muß von mindestens einem Drittel der Mitglieder des Landtags unterzeichnet werden. Der Beschluß erfordert die für Verfassungsänderungen vorgesehene Mehrheit. Er kann bis zum Beginn der Hauptverhandlung mit einfacher Stimmenmehrheit zurückgenommen werden. Die Anklage wird durch den vor oder nach ihrer Erhebung erfolgten Rücktritt des Ministers oder durch dessen Abberufung oder Entlassung nicht berührt.

Das Nähere regelt das Gesetz über den Staatsgerichtshof.

 

IV. Die Gesetzgebung

 

Art. 81 – Gesetzesvorlagen werden von der Regierung oder von Abgeordneten des Landtags eingebracht.

Die Gesetze beschließt der Landtag.

Art. 82 – Die verfassungsmäßig zu Stande gekommenen Gesetze werden durch den Ministerpräsidenten ausgefertigt und binnen Monatsfrist im Regierungsblatt verkündet. Sie werden von dem Ministerpräsidenten und mindestens der Hälfte der Minister unterzeichnet.

Die Ausfertigung und Verkündung hat sofort zu erfolgen, wenn der Landtag die Dringlichkeit beschließt.

Die Gesetze treten, wenn nichts anderes bestimmt ist, mit dem siebenten Tag nach der Ausgabe des Regierungsblattes in Kraft.

Art. 83 – Die Regierung kann, auch im Falle der Dringlichkeitserklärung, ein vom Landtag beschlossenes Gesetz vor seiner Verkündung zur Volksabstimmung bringen, wenn ein Drittel der Mitglieder des Landtags es beantragt.

Die angeordnete Volksabstimmung unterbleibt nur, wenn der Landtag mit Zweidrittelmehrheit erneut das Gesetz beschließt.

Ebenso kann die Regierung ein von ihr eingebrachtes, vom Landtag abgelehntes Gesetz zur Volksabstimmung bringen, wenn ein Drittel der Mitglieder des Landtags es beantragt. In diesem Falle unterbleibt die angeordnete Volksabstimmung nur, wenn der Landtag das Gesetz nachträglich beschließt.

Art. 84 – In der Volksabstimmung entscheidet die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen.

Das Verfahren bei der Volksabstimmung wird durch Gesetz geregelt.

Über Abgabengesetze, Besoldungsgesetze und das Staatshaushaltsgesetz findet keine Volksabstimmung statt.

Art. 85 – Die Verfassung kann durch Gesetz geändert werden. Abänderungsanträge, die dem Geist der Verfassung widersprechen, sind unzulässig. Die Entscheidung, ob ein Änderungsantrag zulässig ist, trifft auf Antrag der Regierung oder eines Viertels der gesetzlichen Mitgliederzahl des Landtags der Staatsgerichtshof.

Die Verfassung kann geändert werden, wenn bei Anwesenheit von mindestens zwei Dritteln der gesetzlichen Mitgliederzahl des Landtags eine Zweidrittelmehrheit, die jedoch mehr als die Hälfte der gesetzlichen Mitgliederzahl betragen muß, es beschließt.

Die Verfassung kann auf Antrag von mehr als der Hälfte der gesetzlichen Mitgliederzahl des Landtags durch Volksabstimmung geändert werden, wenn eine Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen gültigen Stimmen die Abänderung beschließt.

Ohne vorherige Änderung der Verfassung können Gesetze, durch die Bestimmungen der Verfassung durchbrochen würden, nicht beschlossen werden.

Die Absätze 2, 3 und 4 dieses Artikels können nicht geändert werden.

Art. 86 – Die zur Ausführung der Gesetze erforderlichen Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften erläßt, soweit die Gesetze es nicht anders bestimmen, die Regierung.

 

V. Die Rechtspflege

 

Art. 87 – Die richterliche Gewalt wird im Namen des Volkes durch unabhängige, nur dem Gesetz unterworfene Gerichte ausgeübt.

Art. 88 – Die Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit werden auf Lebenszeit bestellt. Sie können gegen ihren Willen nur kraft richterlicher Entscheidung und nur aus den Gründen und unter den Formen, die die Gesetze bestimmen, dauernd oder zeitweise ihres Amtes enthoben oder auf eine andere Stelle oder in den Ruhestand versetzt werden. Die gesetzliche Bestimmung einer Altersgrenze ist zulässig.

Die vorläufige Amtsenthebung kraft Gesetzes wird hierdurch nicht berührt.

Bei einer Veränderung in der Einrichtung der Gerichte oder ihrer Bezirke kann die Landesjustizverwaltung unfreiwillige Versetzungen an ein anderes Gericht oder Entfernung vom Amte, jedoch nur unter Belassung des vollen Gehalts, verfügen.

Richter, die vorsätzlich oder grobfahrlässig ihre Pflicht, das Recht zu finden, verletzt haben, können vor den Dienststrafhof für Richter gezogen werden, wenn dies zum Schutze der Verfassung oder ihres Geistes gegen mißbräuchliche Verwendung der richterlichen Gewalt erforderlich erscheint. Ebenso können Richter, die außerdienstlich gegen den Geist der Verfassung verstoßen haben, vor den Dienststrafhof gezogen werden. Die Anklage wird auf Anordnung des Ministerpräsidenten vom Generalstaatsanwalt erhoben. Der Dienststrafhof besteht aus dem Präsidenten des Oberlandesgerichts als Vorsitzendem, drei Mitgliedern des Landtags, die von diesem gewählt werden, und einem vom Justizminister zu bestellenden richterlichen Mitglied. Die Entscheidung des Dienststrafhofs gilt als richterliche Entscheidung im Sinne des Abs. 1. Die Bestellung der Mitglieder des Dienststrafhofs erfolgt zu Beginn der Wahlperiode des Landtags für die Dauer der Wahlperiode. Das Weitere wird durch Gesetz geregelt.

Auf Handelsrichter, Schöffen und Geschworene finden diese Bestimmungen keine Anwendung.

Art. 89 – Das Volk hat in den durch Gesetz zu bestimmenden Fällen an der Rechtsprechung mitzuwirken.

Art. 90 – Gegen die Anordnungen und Verfügungen der Verwaltungsbehörden kann der Betroffene wegen Verletzung eines ihm zustehenden Rechts oder wegen Belastung mit einer ihm nicht obliegenden Pflicht die Entscheidung der Verwaltungsgerichte anrufen.

Auf die Richter der Verwaltungsgerichtsbarkeit finden die Bestimmungen des Art. 88 entsprechende Anwendung.

Art. 91 – Es wird ein Staatsgerichtshof gebildet. Er besteht aus dem Präsidenten des Oberlandesgerichts als Vorsitzendem, drei vom Oberlandesgericht vorgeschlagenen richterlichen Mitgliedern, die vom Landtag bestellt werden, sowie aus fünf vom Landtag gewählten Mitgliedern, die nicht dem Landtag angehören dürfen. Für die Bestellung der richterlichen Mitglieder ist vom Oberlandesgericht eine Liste von mindestens zehn Namen beim Landtag einzureichen. Der Staatsgerichtshof wird für jede Wahlperiode neu bestellt.

Der Staatsgerichtshof ist zuständig in den in der Verfassung vorgesehenen Fällen.

Auf Antrag der Regierung oder eines Drittels der Mitglieder des Landtags entscheidet der Staatsgerichtshof Zweifelsfragen über die Auslegung der Verfassung.

Die Entscheidung des Staatsgerichtshofs hat Gesetzeskraft.

Das Nähere regelt das Gesetz.

Art. 92 – Die Gerichte sind befugt, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen sowie die Gesetzmäßigkeit von Rechtsverordnungen, behördlichen Verfügungen und Verwaltungsakten zu prüfen.

Hält ein Gericht ein nach Inkrafttreten dieser Verfassung ergangenes Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei einer Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig, so führt es die Entscheidung des Höchsten ihm übergeordneten Gerichts des Landes herbei. Bejaht dieses Gericht die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes, so hat das erkennende Gericht das Gesetz anzuwenden, verneint es die Verfassungsmäßigkeit, so legt es die streitige Frage dem Staatsgerichtshof vor.

Über die Gesetzmäßigkeit von Rechtsverordnungen, behördlichen Verfügungen und Verwaltungsakten entscheidet das Gericht mit Wirkung zwischen den Parteien.

 

VI. Die Verwaltung

 

Art. 93 – Die Erfüllung der hoheitlichen Aufgaben der öffentlichen Verwaltung obliegt in der Regel den Beamten. Die Übertragung solcher Aufgaben auf Angestellte ist zulässig.

Die Beamten sind Sachwalter des ganzen Volkes.

Das Beamtenverhältnis ist auf öffentlich-rechtlicher Grundlage durch Gesetz zu regeln.

Art. 94 – Die öffentlichen Ämter sind allen Staatsbürgern zugänglich. Für die Anstellung und Beförderung entscheiden ausschließlich Befähigung und Leistung nach Maßgabe der Gesetze. Jeder Beamte kann zu den obersten Stellen aufrücken, jeder Angestellte und Arbeiter des öffentlichen Dienstes in eine Beamtenstelle einrücken, wenn sie ihre Befähigung nachgewiesen haben.

Art. 95 – Den Beamten steht für die Verfolgung ihrer vermögensrechtlichen Ansprüche der ordentliche Rechtsweg offen.

Art. 96 – Die Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes sind auf die Verfassung zu vereidigen.

Der Eid umfaßt auch die Verpflichtung, das übertragene Amt gerecht und unparteiisch zu verwalten, die demokratische Verfassung und die Gesetze des Staates zu achten, zu befolgen und zu verteidigen.

Art. 97 – Verletzt ein Beamter oder Angestellter in Ausübung der ihm anvertrauten öffentlichen Gewalt die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht, so trifft die Verantwortlichkeit grundsätzlich den Staat oder die Körperschaft, in deren Dienste der Beamte oder Angestellte steht. Der Rückgriff gegen den Beamten oder Angestellten bleibt vorbehalten. Der ordentliche Rechtsweg darf nicht ausgeschlossen werden.

Das Nähere regelt das Gesetz.

Art. 98 – Die Gemeinden, Gemeindeverbände, Gebietskörperschaften und Zweckverbände haben das Recht der Selbstverwaltung ihrer Angelegenheiten im Rahmen der Gesetze. Vor der gesetzlichen Regelung der sie berührenden allgemeinen Fragen sind sie zu hören.

Die Gemeinden haben in ihrem Gebiet unter eigener Verantwortung alle öffentlichen Aufgaben wahrzunehmen, soweit diese nicht nach gesetzlicher Vorschrift anderen Stellen ausdrücklich zugewiesen sind oder auf Grund gesetzlicher Vorschrift von anderen Stellen übernommen werden. Insbesondere obliegt den Gemeinden die Pflege der gemeinschaftlichen Interessen ihrer Einwohner und die Verwaltung des Gemeindevermögens.

Staatliche Aufgaben können den Gemeinden nur durch Gesetz übertragen werden. Eine finanzielle Überlastung der Gemeinden ist zu vermeiden.

Die Gemeinden werden in ihrem gegenwärtigen Bestand gewährleistet. Eine Gemeinde kann mit einer anderen durch Vereinbarung, die staatlicher Genehmigung bedarf, vereinigt werden. Die Auflösung oder Neubildung einer Gemeinde bedarf des Gesetzes. Gemeinden, die nach dem 31. März 1933 mit anderen Gemeinden gegen ihren Willen vereinigt worden sind, können durch Gesetz wieder zu selbständigen Gemeinden erklärt werden.

Die Landräte und die ersten Bürgermeister werden durch örtliche Wahlen bestimmt. Die Vertretungen der Kreise und Gemeinden werden nach den Grundsätzen der Verhältniswahl durch das Volk gewählt. Das Wahlverfahren wird durch Gesetz geregelt.

 

VII. Das Finanzwesen

 

Art. 99 – Alle Einnahmen und Ausgaben des Staates müssen für jedes Rechnungsjahr veranschlagt und in den Staatshaushaltsplan eingestellt werden. Dieser wird für jedes Rechnungsjahr durch das Staatshaushaltsgesetz festgestellt.

Kommt vor Ablauf des Rechnungsjahrs ein ordentliches Haushaltsgesetz oder ein Nothaushalt nicht zu Stande, so kann die Regierung einen Nothaushaltsplan mit Gesetzeskraft aufstellen. Dieser tritt mit dem Erlaß eines ordentlichen Haushaltsgesetzes außer Kraft.

Der Landtag kann Ausgaben, die über den von der Regierung vorgeschlagenen oder bewilligten Betrag hinausgehen, nur beschließen, wenn Deckung gewährleistet ist.

Art. 100 – Über die Verwendung aller Staatseinnahmen legt der Finanzminister in dem folgenden Rechnungsjahre zur Entlastung der Regierung dem Landtag Rechnung. Die Rechnungsprüfung wird durch Gesetz geregelt.

Art. 101 – Eine Überschreitung des Voranschlags bedarf der nachträglichen Genehmigung des Landtags.

Art. 102 – Ohne Zustimmung des Landtags können weder Anleihen des Staates aufgenommen noch Sicherheitsleistungen zu Lasten des Staates übernommen werden.

Art. 103 – Jedem Staatsbürger und seinen versorgungsberechtigten Angehörigen ist ein steuerfreies Mindesteinkommen zu belassen.

 

Schlußbestimmungen

 

Art. 104 – Zur Befreiung des deutschen Volkes von Nationalsozialismus und Militarismus und zur Beseitigung ihrer Folgen können während einer Übergangszeit durch Gesetz Rechtsvorschriften erlassen werden, die von den Bestimmungen der Verfassung abweichen. Dieser Artikel tritt am 1. Januar 1949 außer Kraft.

Art. 105 – Bestimmungen dieser Verfassung, die der künftigen deutschen Verfassung widersprechen, treten außer Kraft, sobald diese rechtswirksam wird.

Art. 106 – Werden für eine Übergangszeit interzonale Organisationen geschaffen mit der Berechtigung, Gesetze und Verordnungen für mehrere Zonen, insbesondere auf den Gebieten der auswärtigen Beziehungen, der Wirtschaft, der Ernährung, des Finanzwesens und des Verkehrs, zu erlassen, so steht die Verfassung der gesetzgeberischen Zuständigkeit dieser Organisationen nicht im Wege.

Die Regierung ist jedoch dem Landtag für die Tätigkeit und die Abstimmung ihrer Bevollmächtigten in diesen Organisationen verantwortlich.

Art. 107 – Auf Verfassungsänderungen, die aus Anlaß einer Vereinigung von Süd-Württemberg und Süd-Baden mit den nördlichen Landesteilen erfolgen, finden die Bestimmungen des Art. 85 Abs. 2 und 3 keine Anwendung.

Art. 108 – Das Volk des Landes Württemberg-Baden hat dieser von seiner Verfassunggebenden Landesversammlung entworfenen Verfassung durch Volksabstimmung vom 24. November 1946 zugestimmt.

Die Verfassung tritt mit dem Tage ihrer Verkündung in Kraft. Diese Verfassung, die von der Verfassunggebenden Landesversammlung in ihrer 14. Sitzung vom 24. Oktober 1946 beschlossen wurde, wird hiemit als Grundgesetz des Landes Württemberg-Baden verkündet.

 

Stuttgart, den 28. November 1946

 

Das Staatsministerium

(folgen Unterschriften)

 

 

 

 

 

FONTE:

Huber, Ernst Rudolf (a cura di), Quellen zum Staatsrecht der Neuzeit, Band 2, Deutsche Verfassungsdokumente der Gegenwart (1919-1951), Dr. M. Matthiesen & Co. KG., Tübingen 1951.



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