VERFASSUNG FÜR WÜRTTEMBERG-HOHENZOLLERN

vom 18. Mai 1947

(Regierungsblatt S. 1 ff.)

 

 

Vorspruch

 

Das Volk von Württemberg-Hohenzollern gibt sich im Gehorsam gegen Gott und im Vertrauen auf Gott, den allein gerechten Richter, folgende Verfassung:

 

Abschnitt I

Die Staatsform und die Staatsgrenzen

 

Art. 1 – Württemberg-Hohenzollern ist ein freier Volksstaat und ein Glied der deutschen Bundesrepublik.

Art. 2 – 1) Das Staatsgebiet besteht aus den in der Anlage bezeichneten württembergischen und hohenzollerischen Kreisen.

2) Die hohenzollerischen Kreise genießen in dem Umfang Selbstverwaltung, in dem sie ihnen am 1. Januar 1933 gegeben war. Ein Gesetz bestimmt das Nähere.

Art. 3 – 1) Die Staatsfarben sind Schwarz-Rot.

2) Ein Gesetz bestimmt das Staatswappen.

 

Abschnitt II

Das Wesen und die Aufgabe des Staates

 

Art. 4 – Die unveräußerlichen Menschenrechte, Leben und Gesundheit, Freiheit, Hausfrieden und Ehre, Arbeitskraft und Eigentum bestimmen das sittliche Zusammenleben der Menschen und finden in ihm ihre Grenzen.

Art. 5 – Der Staat faßt die auf seinem Gebiet lebenden Menschen zu einem geordneten Gemeinwesen zusammen. Durch Gesetz und Verwaltungsanordnungen schützt und fördert er sie. Gerechter Ausgleich ist das Ziel seines Wirkens.

 

Abschnitt III

Die Pflichten und Rechte der Staatsangehörigen

 

Art. 6 – 1) Unterschiede der Geburt, des Geschlechts und der Rasse, des Bekenntnisses und des Standes begründen grundsätzlich keinen Unterschied der Rechte und Pflichten.

2) Jedermann trägt zu den öffentlichen Lasten im Verhältnis seiner Mittel nach Maßgabe der Gesetze bei.

3) Die Staatsangehörigkeit wird durch Gesetz geregelt.

Art. 7 – 1) Die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts sind bindende Bestandteile des Landesrechts. Sie sind für den Staat und für den einzelnen Staatsbürger verbindlich.

2) Die durch das Völkerrecht Ausländern verbrieften Rechte können von diesen geltend gemacht werden, auch wenn sie nicht durch Landesgesetz ausgesprochen sind.

Art. 8 – Jede Handlung, die mit der Absicht vorgenommen wird, eine friedliche Zusammenarbeit der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Krieges vorzubereiten, ist verfassungswidrig.

Art. 9 – 1) Glauben und Gewissen sind frei.

2) Innerhalb der Schranken der Gesetze hat jedermann das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild oder sonstwie frei zu äußern, solange er die durch die Verfassung gewährten Freiheiten nicht bedroht oder verletzt.

Art. 10 – Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes frei.

Art. 11 – Alle Staatsangehörigen haben das Recht, Bitten und Beschwerden an die zuständigen Behörden und an den Landtag zu richten.

Art. 12 – 1) Alle Staatsangehörigen haben das Recht, sich ohne Anmeldung und ohne besondere Erlaubnis friedlich und unbewaffnet zu versammeln.

2) Versammlungen unter freiem Himmel können durch Gesetz anmeldungspflichtig gemacht und bei Gefahr für die öffentliche Ordnung verboten werden.

Art. 13 – 1) Alle Staatsangehörigen haben das Recht, sich zu einem Zweck, der keinem Gesetz zuwiderläuft, frei zusammenzuschließen. Der Zusammenschluß darf eine verfassungsmäßige Freiheit nicht bedrohen oder verletzen.

2) Der Erwerb der Rechtsfähigkeit steht jeder Vereinigung nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts offen. Die Rechtsfähigkeit darf einer Vereinigung nicht aus dem Grund versagt werden, weil ein von ihr verfolgter Zweck sich auf eine Angelegenheit des Staates, der Gesellschaft, der Wirtschaft oder des Glaubens beziehe.

3) Niemand darf gezwungen werden, sich einer Vereinigung anzuschließen. Doch können Berufe, deren Ausübung behördlicher Anerkennung bedarf, und, wenn das Gemeinwohl dies dringend gebietet, Angehörige von Berufs- oder Wirtschaftszweigen durch Gesetz zusammengeschlossen werden.

Art. 14 – 1) Die Wohnung ist unverletzlich. Eine Durchsuchung ist nur auf Grund des Gesetzes zulässig.

2) Eine Verwaltungsbehörde kann durch Gesetz zu einem Eingriff oder einer Einschränkung ermächtigt werden, wenn dies erforderlich ist, um die Wohnungsnot zu beheben oder eine Seuchengefahr zu bekämpfen oder gefährdete Jugendliche zu schützen oder die Bewirtschaftung lebenswichtiger Güter durchzuführen.

Art. 15 – 1) Das Eigentum wird gewährleistet. Jedermann darf Eigentum erwerben und darüber verfügen. Durch Arbeit und Sparsamkeit erworbenes Vermögen wird besonders geschützt.

2) Eigentum verpflichtet gegenüber der Gesamtheit. Sein Gebrauch darf dem Gemeinwohl nicht zuwiderlaufen.

3) Eigentum darf nur bei dringender Notwendigkeit im öffentlichen Interesse beschränkt oder entzogen werden. Gerechtes Abwägen der Bedürfnisse der Allgemeinheit gegenüber denen des Betroffenen ist maßgebend für Grund, Art und Höhe der Entschädigung. Ein Gesetz regelt das Verfahren. Im Streitfall entscheidet das ordentliche Gericht.

Art. 16 – Das Erbrecht wird gewährleistet. Das Gesetz bestimmt seinen Inhalt und seine Grenzen.

Art. 17 – 1) Strafen können nur verhängt werden auf Grund von Gesetzen, die zur Zeit der Begehung der Tat in Geltung waren.

2) Ein Beschuldigter gilt solange nicht als schuldig, als er nicht von einem ordentlichen Gericht schuldig gesprochen ist.

3) Niemand darf zweimal wegen derselben Tat gerichtlich bestraft werden.

Art. 18 – Niemand darf verfolgt, festgenommen oder in Haft gehalten werden, außer in Fällen, die das Gesetz bestimmt, und in den von diesem vorgeschriebenen Formen. Niemand darf in Haft gehalten werden, ohne innerhalb von 48 Stunden einem Richter vorgeführt zu werden, der die Rechtmäßigkeit der Festnahme zu prüfen hat. Soll die Haft länger als einen Monat dauern, so ist sie jeden Monat durch eine begründete Entscheidung des Richters erneut zu bestätigen.

Art. 19 – Das Briefgeheimnis sowie das Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis sind unverletzlich. Eine Ausnahme, die dem Geist der Verfassung nicht zuwiderlaufen darf, findet nur auf Grund des Gesetzes statt.

 

Abschnitt IV

Die Staatsgewalt und ihre Ausübung

 

Kapitel 1

Die Staatsgewalt

 

Art. 20 – Träger der Staatsgewalt ist das Volk.

 

Kapitel 2

Die Ausübung der Staatsgewalt

 

1. Die Stimm- und Wahlrechte der Staatsangehörigen

 

Art. 21 – Die Staatsangehörigen äußern ihren Willen durch Abstimmung und Wahl.

Art. 22 – 1) Wahlberechtigt sind alle Staatsangehörigen, die an dem Tage, an dem die Abstimmung oder Wahl stattfindet, das 21. Lebensjahr vollendet haben und die im Landtagswahlgesetz bestimmten Anforderungen erfüllen.

2) Das Volk stimmt und wählt an einem Sonntag. Abstimmung und Wahl geschehen allgemein, gleich, unmittelbar und geheim.

Art. 23 – Volksabstimmung findet über Annahme oder Ablehnung und über Änderung der Verfassung statt.

 

2. Der Landtag

 

Art. 24 – 1) Der Landtag ist die von den Staatsangehörigen gewählte Volksvertretung.

2) Er beschließt die Gesetze und überwacht ihre Ausführung.

Art. 25 – 1) Wählbar ist jeder Wahlberechtigte, der am Tage, an dem die Wahl stattfindet, das 25. Lebensjahr vollendet hat und die im Landtagswahlgesetz bestimmten Anforderungen erfüllt.

2) Der Landtag wird auf vier Jahre gewählt.

3) Die Neuwahl findet vor Ablauf des Wahlzeitraums statt.

4) Das Landtagswahlgesetz bestimmt das Nähere.

Art. 26 – 1) Der Gewählte kann die Wahl ablehnen oder nachträglich auf die Zugehörigkeit zum Landtag verzichten. Ablehnung und Verzicht sind dem Präsidenten des Landtags schriftlich und eigenhändig mitzuteilen. Die Erklärung ist unwiderruflich.

2) Verliert ein Abgeordneter die Wählbarkeit, so erlischt seine Zugehörigkeit zum Landtag.

Art. 27 – 1) Der Landtag prüft die Vollmachten der Abgeordneten und entscheidet über sie.

2) Ist eine Wahl angefochten oder ist streitig, ob ein Abgeordneter die Zugehörigkeit zum Landtag verloren hat, so entscheidet der Staatsgerichtshof.

Art. 28 – Der Landtag tritt spätestens am sechzehnten Tag nach der Wahl zusammen.

Art. 29 – 1) Der Landtag wählt für den Zeitraum, auf den er gewählt ist, einen Präsidenten, dessen Stellvertreter und die Schriftführer.

2) Er gibt sich für denselben Zeitraum eine Geschäftsordnung. Er kann beschließen, daß die Geschäftsordnung nur abgeändert werden kann, wenn zwei Drittel der anwesenden Abgeordneten zustimmen.

Art. 30 – Zwischen zwei Wahlzeiträumen führt der Präsident des letzten Zeitraumes oder sein Stellvertreter die Geschäfte fort.

Art. 31 – 1) Der Präsident des Landtags hat das Recht, den Landtag einzuberufen.

2) Er muß ihn einberufen, wenn die Regierung oder mindestens ein Drittel der Abgeordneten es verlangt und wenn der Staatspräsident das Recht des Artikels 50 Absatz 1 ausübt.

Art. 32 – 1) Der Landtag verhandelt öffentlich.

2) Die Öffentlichkeit wird ausgeschlossen, wenn der Landtag dies auf Antrag eines Ministers oder von mindestens zehn Abgeordneten mit Zweidrittelmehrheit beschließt.

Art. 33 – Der Landtag ist beschlußfähig, wenn die Mehrheit der Abgeordneten anwesend ist.

Art. 34 – Niemand kann wegen eines wahrheitsgetreuen Berichts über eine öffentliche Verhandlung des Landtags oder eines seiner Ausschüsse zur Verantwortung gezogen werden.

Art. 35 – 1) Der Landtag hat das Recht und auf Antrag eines Viertels der Abgeordneten die Pflicht, Untersuchungsausschüsse einzusetzen. Diese erheben in öffentlicher Sitzung die Beweise, die sie von sich aus oder in Rücksicht auf ein Beweisangebot eines Antragstellers für erforderlich erachten. Die Gerichte und Verwaltungsbehörden sind verpflichtet, dem Ersuchen eines Ausschusses um Beweiserhebung zu folgen. Akten der Behörden, die den Gegenstand der Untersuchung betreffen, sind ihm auf Verlangen vorzulegen.

2) Die Öffentlichkeit der Beweiserhebung kann auf Grund des Beschlusses einer Zweidrittelmehrheit ausgeschlossen werden. Sie muß, wenn die Regierung dies verlangt, für die Dauer der Begründung eines Antrages auf Ausschluß der Öffentlichkeit ausgeschlossen werden.

3) Die Vorschriften der Strafverfahrensordnung sind auf die Erhebungen der Ausschüsse und der ersuchten Behörden sinngemäß anzuwenden. Das Briefgeheimnis sowie das Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis bleiben gewahrt.

Art. 36 – 1) Die Mitglieder der Regierung und ihre Bevollmächtigten haben das Recht und auf Verlangen des Landtags oder eines (1) seiner Ausschüsse die Pflicht, an den Sitzungen teilzunehmen.

2) Sie müssen gehört werden, so oft sie dies verlangen, und sind verpflichtet, Auskunft zu erteilen.

Art. 37 – Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes. Gewissenhafte Erwägung ist maßgebend für ihre Abstimmung und für jede Äußerung, die sie in Ausübung ihres Berufes machen. Kein Auftrag bindet sie.

Art. 38 – Kein Abgeordneter darf zu irgendeiner Zeit wegen seiner Abstimmung oder wegen einer Äußerung, die er in Ausübung seines Berufs gemacht hat, gerichtlich oder dienstlich verfolgt oder sonst außerhalb der Versammlung zur Verantwortung gezogen werden.

Art. 39 – 1) Während des Wahlzeitraumes darf ein Abgeordneter wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung oder aus einem anderen Grund nur dann zur Untersuchung gezogen, festgenommen oder verhaftet werden, wenn der Landtag dies genehmigt hat.

2) Eine Ausnahme vom Grundsatz des Abs. 1 findet statt, wenn der Abgeordnete bei Verübung der Tat oder spätestens im Lauf des folgenden Tags festgenommen oder verhaftet worden ist, ebenso wenn ein gerichtlicher Haftbefehl gegen einen Abgeordneten wegen eines Verbrechens ergangen ist, das sich unmittelbar gegen den inneren Bestand oder die äußere Sicherheit des Staates richtet.

3) Auf Verlangen des Landtags muß jedes Strafverfahren gegen einen Abgeordneten für die Dauer des Wahlzeitraums eingestellt und jede Haft oder sonstige Beschränkung der Freiheit eines Abgeordneten insolange aufgehoben werden.

4) Diese Bestimmungen gelten für den Präsidenten des Landtags, seinen Stellvertreter und für die Mitglieder des Zwischenausschusses in der Zeit zwischen zwei Wahlzeiträumen entsprechend. Die Rechte des Landtags werden durch den Zwischenausschuß ausgeübt.

Art. 40 – 1) Einem Beamten, Angestellten oder Arbeiter, der sich um einen Sitz im Landtag bewirbt, ist der zur Vorbereitung der Wahl erforderliche Urlaub zu gewähren.

2) Ein Abgeordneter, der im Dienstverhältnis eines Beamten, Angestellten oder Arbeiters steht, bedarf zur Ausübung seines Berufs keines Urlaubs.

3) Im übrigen darf kein Abgeordneter an der Übernahme oder Ausübung seines Berufs gehindert werden. Steht er als Beamter, Angestellter oder Arbeiter in einem Dienstverhältnis, so darf er aus dem Verhältnis nicht entlassen und darf dieses ihm gegenüber nicht gekündigt werden.

Art. 41 – 1) Hat ein Abgeordneter als solcher eine Tatsache einem anderen anvertraut oder von einem anderen vertraulich erfahren, so ist er berechtigt, das Zeugnis sowohl über den, der die Tatsache anvertraut hat, als auch über die anvertraute Tatsache zu verweigern. Schriftliche Mitteilungen zwischen einem Abgeordneten und einem anderen über eine solchermaßen anvertraute Tatsache unterliegen der Beschlagnahme nicht, solange sie sich in den Händen des Abgeordneten befinden.

2) In den Räumen des Landtags darf eine Durchsuchung oder Beschlagnahme nur vorgenommen werden, wenn der Präsident zustimmt.

Art. 42 – 1) Der Staatspräsident kann den Landtag mit Zustimmung von zwei Fünfteln der gesetzlichen Zahl der Abgeordneten auflösen. Er muß die Auflösung begründen und kann sie nur einmal auf denselben Grund stützen.

2) Die Auflösung des Landtags hat den Rücktritt der Regierung zur Folge. Diese führt die Geschäfte nur so lange fort, bis die Neuwahl des Landtags und des Staatspräsidenten stattgefunden hat und eine neue Regierung gebildet ist.

3) Die Neuwahl des Landtags findet spätestens am sechsten Sonntag nach der Auflösung des Landtags statt.

Art. 43 – Die Abgeordneten erhalten eine Entschädigung für den Aufwand, den sie aus Anlaß der Ausübung ihres Berufs als Abgeordneter haben. Ein Gesetz regelt das Nähere.

 

3. Die Regierung

 

Art. 44 – Die Regierung übt die vollziehende Gewalt aus. Sie besteht aus dem Staatspräsidenten und den Ministern.

Art. 45 – 1) Der Staatspräsident wird vom Landtag in oder gleich nach seiner ersten Sitzung für denselben Zeitraum wie der Landtag gewählt. Die Wahl kommt nur zustande, wenn ihr mehr als die Hälfte der gesetzlichen Zahl der Abgeordneten zustimmt.

2) Wählbar zum Staatspräsidenten ist jeder 35 Jahre alte Wahlberechtigte, der nach den Vorschriften des Landtagswahlgesetzes zum Landtagsabgeordneten gewählt werden kann.

Art. 46 – 1) Lehnt der Gewählte die Wahl ab, oder scheidet er durch Rücktritt oder Tod aus, so wird der neue Staatspräsident auf den Rest des Wahlzeitraums gewählt.

2) Zwischen zwei Wahlzeiträumen führt der Staatspräsident des letzten Zeitraums oder sein Stellvertreter das Amt fort.

Art. 47 – 1) Der Staatspräsident vertritt den Staat nach außen.

2) Zum Abschluß eines Staatsvertrags bedarf er der Zustimmung der Regierung und der Genehmigung des Landtags.

Art. 48 – 1) Der Staatspräsident ernennt und verabschiedet die Beamten.

2) Er kann dieses Recht teilweise auf eine andere Behörde übertragen.

Art. 49 – 1) Der Staatspräsident übt das Gnadenrecht aus.

2) Er kann dieses Recht teilweise auf eine andere Behörde übertragen.

3) Eine Amnestie erfordert ein Gesetz.

Art. 50 – 1) Bei unmittelbarer Gefahr für den Bestand des Staates trifft der Staatspräsident die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlichen Maßnahmen. Seine Verordnungen haben Gesetzeskraft. Er muß die getroffenen Maßnahmen unverzüglich zur Kenntnis des Landtags bringen, der sie außer Kraft setzen kann.

2) Stellt der Landtag fest, daß eine unmittelbare Gefahr für den Bestand des Staates nicht mehr besteht, so entfällt das in Absatz 1 festgesetzte Recht des Staatspräsidenten. Dieser Beschluß bedarf im ersten Monat nach der Verkündung des Notstandes der Zweidrittelmehrheit.

3) Während der Dauer des Notstandes kann der Staatspräsident den Landtag nicht auflösen und läuft die Wahlzeit des Landtages nicht ab.

Art. 51 – 1) Die Regierung bedarf zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Landtags. Entzieht ihr der Landtag mit mehr als der Hälfte der gesetzlichen Zahl seiner Mitglieder sein Vertrauen, so muß sie ihren Rücktritt erklären. Der Rücktritt wird erst rechtswirksam, wenn der Landtag einer neuen Regierung das Vertrauen ausspricht.

2) Der Staatspräsident und die Minister können jederzeit ihren Rücktritt erklären. Im Falle des Rücktritts sind die Geschäfte bis zur Neubildung einer Regierung oder bis zur Neuernennung des Ministers weiterzuführen.

Art. 52 – 1) Der Staatspräsident beruft und entläßt die Minister.

2) Er führt den Vorsitz in der Regierung.

3) Er bestimmt Ziel und Richtung der Staatsführung und trägt für sie die Verantwortung vor dem Landtag. Im übrigen leitet jeder Minister seinen Geschäftsbereich selbständig und in eigener Verantwortung gegenüber dem Landtag.

4) Ein Gesetz bestimmt die Zahl der Minister und den Geschäftskreis des einzelnen Ministers.

5) Die Regierung bestellt aus ihrer Mitte den Stellvertreter des Staatspräsidenten.

Art. 53 – Der Staatspräsident und die Minister leisten beim Antritt ihres Amtes vor dem Landtag einen Eid auf die Verfassung.

Art. 54 – Alle Anordnungen und Verfügungen des Staatspräsidenten mit Ausnahme derjenigen, die er auf Grund der Verfassung kraft eigener Vollmacht trifft, insbesondere der Auflösung des Landtags nach Artikel 42 Absatz 1, einer Notmaßnahme nach Artikel 50 Absatz 1 und der Berufung oder Entlassung eines Ministers nach Artikel 52 Absatz 1 bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung durch den zuständigen Minister.

2) Der zuständige Minister wird durch die Gegenzeichnung mit verantwortlich.

Art. 55 – 1) Die Regierung gibt sich eine Geschäftsordnung.

2) Sie ist bei Anwesenheit der Mehrheit der Minister beschlußfähig und beschließt mit Stimmenmehrheit der anwesenden Minister. Kein anwesender Minister darf sich der Stimme enthalten. Bei Stimmengleichheit gibt die Stimme des Staatspräsidenten den Ausschlag.

Art. 56 – 1) Die Minister unterbreiten der Regierung die Gesetzentwürfe ihres Geschäftskreises zur Beratung und zum Beschluß.

2) Sie verfahren ebenso, wenn über eine Angelegenheit zu beraten und zu beschließen ist, die nach der Verfassung oder einem Gesetz zur Zuständigkeit der Regierung gehört, wenn ein Widerstreit der Meinungen in einer Angelegenheit entsteht, die den Geschäftskreis mehrerer Minister berührt, oder wenn über eine Frage von grundsätzlicher oder weittragender Bedeutung zu entscheiden ist.

Art. 57 – 1) Der Landtag kann den Staatspräsidenten und jeden Minister vor dem Staatsgerichtshof anklagen, daß er die Verfassung oder ein Gesetz vorsätzlich oder grobfahrlässig verletzt habe.

2) Der Beschluß über Erhebung der Anklage durch den Landtag setzt einen Antrag mindestens eines Drittels der gesetzlichen Zahl der Abgeordneten voraus und erfordert eine Mehrheit von zwei Dritteln derselben Zahl.

3) Bis zum Beginn der Hauptverhandlung vor dem Staatsgerichtshof kann die Anklage auf Grund eines mit einfacher Stimmenmehrheit gefaßten Beschlusses zurückgenommen werden.

4) Scheidet der Angeklagte durch Rücktritt oder Entlassung aus seinem Amt aus, so nimmt das Verfahren vor dem Staatsgerichtshof trotzdem seinen Fortgang.

 

4. Die Gerichte

 

Art. 58 – 1) Die richterliche Gewalt wird durch unabhängige, nur den Gesetzen unterworfene Gerichte ausgeübt.

2) Die Gerichte urteilen im Namen des deutschen Volkes.

3) Ein Richtergesetz bestimmt die allgemeinen Pflichten und Rechte der Richter, den zuständigen Dienststrafhof und das zu beobachtende Dienststrafverfahren.

Art. 59 – 1) Gerichte für besondere Sachgebiete sind nur außerhalb der Strafrechtspflege und nur kraft Gesetzes zulässig. Ausnahmegerichte und Sondergerichte dürfen nicht errichtet werden.

2) Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden.

Art. 60 – 1) Die Richter werden auf Lebenszeit ernannt. Die gesetzliche Bestimmung einer Altersgrenze ist zulässig.

2) Ein Richter kann gegen seinen Willen nur kraft richterlicher Entscheidung und nur aus einem Grund, den ein Gesetz bestimmt, und nur unter gesetzlich geregelten Formen dauernd oder zeitweise seines Amtes enthoben oder verabschiedet werden. Die vorläufige Amtsenthebung, die kraft Gesetzes eintritt, wird hierdurch nicht berührt.

3) Gegen den Willen eines Richters ist seine Versetzung oder vorübergehende Entfernung vom Amt nur zulässig, wenn dies notwendig ist, weil ein Gericht aufgehoben oder neu errichtet oder der Bezirk eines Gerichts geändert wird. In diesem Fall muß dem von einer solchen Verfügung betroffenen Richter sein volles Gehalt belassen werden.

Art. 61 – In den durch Gesetz bestimmten Fällen nehmen Handelsrichter, Schöffen, Geschworene oder andere nicht im Richteramt angestellte Beisitzer an der Rechtsprechung teil. Artikel 60 ist auf sie nicht anwendbar.

Art. 62 – Hat ein Gericht in einer bei ihm anhängigen Sache ein Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes oder einer anderen Rechtsordnung, so führt es die Entscheidung des Staatsgerichtshofs herbei.

Art. 63 – 1) Gegen die Anordnungen und Verfügungen der Verwaltungsbehörden kann der Betroffene wegen Verletzung eines ihm zustehenden Rechts oder wegen Belastung mit einer ihm nicht obliegenden Pflicht die Entscheidung der Verwaltungsgerichte anrufen.

2) Auf die Richter der Verwaltungsgerichtsbarkeit findet Artikel 60 Anwendung.

 

Abschnitt V

Der Staatsgerichtshof

 

Art. 64 – 1) Der Staatsgerichtshof besteht aus dem Präsidenten des Oberlandesgerichts als Vorsitzendem, zwei Oberlandesgerichtsräten, einem hauptamtlichen Mitglied des Verwaltungsgerichtshofes und fünf weiteren Mitgliedern. Der Staatspräsident ernennt die richterlichen Mitglieder. Die übrigen Mitglieder werden vom Landtag gewählt.

2) Landtagsabgeordnete können nicht Mitglieder des Staatsgerichtshofes sein.

Art. 65 – 1) Der Staatsgerichtshof entscheidet, wenn Streit oder Zweifel besteht, über Auslegung und Anwendung der Verfassung, insbesondere über folgendes:

1. Zugehörigkeit zum Landtag (Artikel 27 Absatz 2);

2. Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes oder einer anderen Rechtsanordnung (Artikel 62).

2) Der Staatsgerichtshof entscheidet ferner über eine Anklage gegen ein Mitglied der Regierung.

3) Durch Gesetz können dem Staatsgerichtshof weitere Aufgaben übertragen werden.

4) Die Entscheidungen des Staatsgerichtshofes haben Gesetzeskraft.

Art. 66 – 1) Der Staatspräsident, die Regierung, die Mehrheit des Landtages oder eine Landtagsfraktion sind berechtigt, die Entscheidung des Staatsgerichtshofes in den Fällen des Artikels 65 Absatz 1 anzurufen.

2) Dasselbe Recht hat ein Gericht im Fall des Artikels 65 Absatz 1 Nr. 2 unter der im Artikel 62 bestimmten Voraussetzung.

Art. 67 – Ein Gesetz über den Staatsgerichtshof bestimmt auf Grund der Artikel 64, 65 und 66 das Nähere über die Besetzung und Zuständigkeit des Staatsgerichtshofes sowie über das Verfahren vor dem Staatsgerichtshof.

 

Abschnitt VI

Das Zustandekommen der Gesetze

 

Art. 68 – 1) Die für alle verbindlichen Gebote und Verbote bedürfen der Gesetzesform.

2) Der Staatshaushalt muß durch Gesetz festgestellt werden.

Art. 69 – Die Gesetzesvorlagen werden von der Regierung oder von einem oder mehreren Abgeordneten beim Landtag eingebracht.

Art. 70 – 1) Die verfassungsgemäß zustande gekommenen Gesetze werden vom Staatspräsidenten unterzeichnet, mindestens von der Hälfte der Minister gegengezeichnet, vom Staatspräsidenten ausgefertigt und im Regierungsblatt verkündet.

2) Die Gesetze treten, wenn nichts anderes bestimmt ist, mit dem siebten Tag nach dem Tage der Ausgabe des Regierungsblattes in Kraft.

Art. 71 – 1) Bei der Volksabstimmung wird mit Ja oder Nein gestimmt.

2) Die einfache Mehrheit entscheidet. Verfassungsändernde Gesetze bedürfen einer Zweidrittelmehrheit.

3) Ein Gesetz über die Volksabstimmung bestimmt das Nähere.

Art. 72 – Der Landtag kann dem Volk eine Änderung der Verfassung vorschlagen.

Art. 73 – Die zur Ausführung der Gesetze erforderlichen Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften erläßt, soweit die Gesetze nicht anders bestimmen, die Regierung.

 

Abschnitt VII

Die staatlichen Behörden und Beamten

 

Art. 74 – Mit Ausnahme der Gerichte, die nach Artikel 58 an keine Weisung gebunden sind, führen die Behörden den Willen der Regierung zur Erreichung des Staatszwecks im Gehorsam gegenüber den Weisungen aus, die ihnen die im Behördenaufbau vorgesetzte Behörde erteilt.

Art. 75 – Bei der Errichtung von Behörden und bei der Regelung ihres Verfahrens gilt der Grundsatz, daß die Einheitlichkeit der Verwaltung gewahrt, die Selbstverantwortung der Behörde gehoben und den Bedürfnissen der Staatsangehörigen genügend Rechnung getragen wird.

Art. 76 – 1) Die Beamten sind Diener des ganzen Volkes. Sie stehen zum Staat in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis.

2) Die öffentlichen Ämter sind allen Staatsangehörigen zugänglich, sofern sie die gesetzlichen Bedingungen für die Anstellung in den einzelnen Ämtern erfüllt haben. Im übrigen hängen Anstellung und Beförderung ausschließlich von Eignung und Fähigkeit ab.

3) Das Richtergesetz (Artikel 58 Absatz 3) und ein Beamtengesetz bestimmen das Nähere.

Art. 77 – 1) Die Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes werden auf die Verfassung vereidigt.

2) Der Eid umfaßt die Verpflichtung, die Verfassung und die Gesetze zu achten, zu befolgen und zu verteidigen, sowie die Obliegenheiten des Amts treu und gehorsam, gerecht und gewissenhaft zu erfüllen.

Art. 78 – 1) Verletzt ein Beamter in Ausübung der ihm anvertrauten öffentlichen Gewalt die ihm einem anderen gegenüber obliegende Amtspflicht, so haftet der Staat oder die Körperschaft, in deren Dienst der Beamte steht, für die Folgen der Pflichtverletzung.

2) Der Rückgriff auf den Beamten bleibt vorbehalten. Der ordentliche Rechtsweg darf nicht ausgeschlossen werden.

Art. 79 – Den Beamten steht der ordentliche Rechtsweg zur Verfolgung der vermögensrechtlichen Ansprüche offen, die sie auf das öffentlich-rechtliche Dienstverhältnis stützen.

 

Abschnitt VIII

Das Finanzwesen

 

Art. 80 – 1) Alle Einnahmen und Ausgaben des Staates müssen für jedes Rechnungsjahr veranschlagt und in den Staatshaushaltsplan eingestellt werden. Das Staatshaushaltsgesetz stellt den Staatshaushaltsplan für jedes Rechnungsjahr, in Ausnahmefällen für zwei Rechnungsjahre, vor Beginn des Rechnungsjahres fest.

2) Kommt vor Ablauf des Rechnungsjahres ein ordentliches Haushaltsgesetz oder ein Nothaushalt nicht zustande, so kann die Regierung einen Nothaushalt mit Gesetzeskraft aufstellen. Dieser tritt mit dem Erlaß eines ordentlichen Haushaltsgesetzes außer Kraft.

Art. 81 – 1) Die Regierung darf den Voranschlag des Staatshaushaltsplans nur mit Genehmigung des Landtags überschreiten.

2) Beschlüsse des Landtags, Ausgaben des Voranschlags zu erhöhen oder neue einzustellen, werden auf Verlangen der Regierung wiederholt beraten. Die Beratung darf ohne Einwilligung der Regierung nicht vor Ablauf von vierzehn Tagen stattfinden. Der Beschluß ist nur gültig, wenn gleichzeitig für die notwendige Deckung gesorgt ist.

Art. 82 – 1) Die Regierung darf nur mit Einwilligung des Landtags Anleihen aufnehmen oder Sicherheit zu Lasten des Staates leisten.

2) Das Grundstocksvermögen des Staates darf ohne Zustimmung des Landtags nur veräußert oder belastet werden, wenn dies dem Vorteil des Ganzen dient. Der Erlös muß in diesem Fall zu neuem Erwerb für das Grundstocksvermögen verwendet oder der Staatsschuldenkasse zur Verzinsung übergeben werden.

Art. 83 – 1) Der Finanzminister legt dem Landtag im folgenden Rechnungsjahr über die Verwendung der Staatseinnahmen zur Entlastung der Regierung Rechnung.

2) Ein mit richterlicher Unabhängigkeit ausgestatteter Rechnungshof prüft die Rechnungen über die Einnahmen und Ausgaben eines Rechnungsjahrs. Ein Gesetz bestimmt das Nähere.

 

Abschnitt IX

Die Selbstverwaltung

 

Art. 84 – 1) Der Staat anerkennt und schützt das Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden, der Kreisverbände und der Zweckverbände.

2) Die Selbstverwaltungskörper sind Rechtspersonen des öffentlichen Rechts. Sie ordnen und verwalten ihre eigenen Angelegenheiten selber im Rahmen der Gesetze.

3) Die Selbstverwaltungskörper unterstehen der Aufsicht des Staates.

Art. 85 – 1) In den eigenen Wirkungskreis der Gemeinden fallen alle öffentlichen Aufgaben, die nicht nach gesetzlicher Vorschrift anderen Stellen ausdrücklich zugewiesen sind oder auf Grund gesetzlicher Vorschrift von anderen Stellen übernommen werden, insbesondere die Verwaltung des Gemeindevermögens und der Gemeindebetriebe, der Bau und die Pflege von Straßen und Wegen, das Verkehrswesen, die Versorgung der Bevölkerung mit Wasser, Gas und Strom; die örtliche Polizei, der Feuerschutz, die örtliche Kulturpflege, das Schulwesen und die Wohlfahrtspflege.

2) Der Staat sorgt bei der Zuweisung der Steuerquellen und bei der Verteilung des Steueraufkommens dafür, daß die Selbstverwaltungskörper in der Lage sind, ihre Aufgaben zu erfüllen.

Art. 86 – Den Selbstverwaltungskörpern können durch Gesetz staatliche Aufgaben übertragen werden. In diesem Fall ist der Staat verpflichtet, die erforderlichen Mittel zur Verfügung zu stellen.

Art. 87 – 1) Der Gebietsbestand der Gemeinden und der Kreise kann nur durch Gesetz geändert werden.

2) Eingemeindungen bedürfen staatlicher Genehmigung.

3) Gemeinden und Kreise, die nach dem 31. März 1933 mit einer anderen Gemeinde oder einem anderen Kreis gegen ihren Willen vereinigt worden sind, können durch Gesetz wieder zu selbständigen Gemeinden oder Kreisen erklärt werden.

Art. 88 – Der Verwaltungsgerichtshof entscheidet Verwaltungsstreitigkeiten zwischen den Gemeinden und dem Staat.

 

Abschnitt X

Das Wirtschafts- und Gemeinschaftsleben

 

Art. 89 – 1) Wer durch Krankheit, Alter oder sonstwie ohne Schuld in Not geraten ist, hat Anspruch auf Schutz und Hilfe durch den Staat und die Gemeinde.

2) Insbesondere sichert der Staat die wirtschaftliche Lage der Staatsangehörigen, deren körperliche Unversehrtheit der Krieg geschädigt hat, und derjenigen, die den Ernährer durch den Krieg verloren haben.

3) Er sorgt nach Maßgabe des Bedürfnisses und der verfügbaren Mittel für einen der Billigkeit entsprechenden Ersatz der durch den Krieg verursachten wirtschaftlichen Schäden.

4) Ein Gesetz bestimmt das Nähere.

Art. 90 – 1) Die Arbeit ist sittliche Pflicht. Jedermann soll durch eigene Arbeit seinen Unterhalt erwerben können.

2) Männer und Frauen stehen bei Wahl und Ausübung des Berufes gleich. Bei gleicher Leistung ist gleicher Lohn zu gewähren.

3) Die gewerbsmäßige Kinderarbeit ist verboten.

Art. 91 – 1) Der Schutz der Arbeit und der Ruhe nach der Arbeit ist dem Staat besonders angelegen.

2) Der Staat schützt den Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage.

3) Der 1. Mai ist gesetzlicher Feiertag. Er gilt dem Bekenntnis zu sozialer Gerechtigkeit, zu Frieden, Freiheit und Völkerverständigung.

Art. 92 – 1) Die Wirtschaft des Landes hat der Befriedigung des Bedarfs der Bevölkerung zu dienen. Zu diesem Zweck können durch Gesetz Erzeugungs- und Bewirtschaftungsmaßnahmen angeordnet werden. Innerhalb der hierdurch gezogenen Grenzen ist die wirtschaftliche Betätigung frei.

2) Zur Ordnung der wirtschaftlichen Angelegenheiten werden Körperschaften geschaffen, an denen Unternehmer und Arbeitnehmer und, soweit erforderlich, Erzeuger und Verbraucher gleichmäßig zu beteiligen sind.

3) Das gemeinnützige Wirken der Genossenschaften ist zu fördern.

Art. 93 – 1) Die Landwirtschaft hat als Grundlage der Volksernährung Anspruch auf jede mögliche Förderung durch den Staat.

2) Landwirtschaftliche Betriebe sind tunlichst vor Überschuldung zu bewahren.

3) Der Erwerb von landwirtschaftlich und forstwirtschaftlich genutztem Boden darf nicht lediglich als Vermögensanlage dienen, er soll vom Nachweis abhängig gemacht werden, daß der Erwerber oder der, für den er erwirbt, sich dazu eignet, ihn selbst sachgemäß zu bewirtschaften.

4) Enteignungen von landwirtschaftlichem oder forstwirtschaftlichem Boden sind nur für dringende Zwecke des Gemeinwohls, insbesondere der Siedlung, und nur gegen eine Entschädigung zulässig, die dem Rechtsgedanken des Artikels 15 Absatz 3 entspricht; Mustergüter sind zu schonen.

Art. 94 – Aufgabe der Gesetzgebung und der Verwaltung ist es, den gewerblichen und den kaufmännischen Mittelstand zu fördern und vor Aufsaugung zu schützen.

Art. 95 – 1) Alle Berufstätigen haben das Recht, sich zu Verbänden zusammenzuschließen, um ihr Verhältnis innerhalb der Volksgemeinschaft und ihre wirtschaftlichen Bedürfnisse gemeinsam wahrzunehmen. Die besonderen Pflichten, die sich aus der Stellung der öffentlichen Beamten ergeben, bleiben unberührt.

2) Der Staat anerkennt insbesondere Gewerkschaften und Unternehmervereinigungen. Er billigt ihnen das Recht zu, Vereinbarungen miteinander zu treffen.

Art. 96 – 1) Die Arbeiter und Angestellten sind berechtigt, in Gemeinschaft mit dem Unternehmer an der Verwaltung, Gestaltung und Entwicklung des Betriebes teilzunehmen. Die Regelung der Arbeits- und Lohnverhältnisse bildet vornehmlich den Gegenstand der auf gegenseitigem Vertrauen und gegenseitiger Anerkennung und Achtung beruhenden Zusammenarbeit mit den Unternehmern.

2) Bei der Regelung der Zusammenarbeit der Arbeitnehmer mit den Unternehmern sind die besonderen Bedürfnisse der Klein- und Mittelbetriebe zu berücksichtigen. Der auf Fortschritt gerichtete freie Entschluß der Unternehmer solcher Betriebe darf nicht gehemmt werden.

3) Die Arbeitnehmer haben Anspruch auf gerechten Lohn, auf ausreichende Freizeit und auf Urlaub.

4) Ein Arbeitsrechtsgesetz bestimmt das Nähere.

Art. 97 – 1) Der Staat anerkennt das Streikrecht als Recht der Arbeitnehmer auf gemeinsame, geregelte Einstellung der Arbeit zur Erhaltung ihrer Lebensgrundlage und zur Erreichung günstigerer Arbeits-, insbesondere Lohnverhältnisse.

2) Die Gewerkschaftsleitung entscheidet darüber, ob und in welchem Umfang die Arbeitnehmer in den Streik treten. Sie ist verpflichtet, die Wirkung des Streiks auf das Gemeinwohl zu erwägen und den Streik nur zu beschließen, nachdem Verständigungsversuche gescheitert sind.

3) Der Staat sorgt für die Fortbildung des Schlichtungswesens als der staatlichen Einrichtung, die dazu dient, wirtschaftliche Gegensätze zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern friedlich auszugleichen.

Art. 98 – 1) Rohstoffe und Erzeugnisse, die zum lebenswichtigen Bedarf des Volkes gehören, insbesondere Bodenschätze, ferner Wasserkräfte sowie Verkehrsmittel und andere Großbetriebe können, wenn die Rücksicht auf das Gemeinwohl dies erfordert, durch Gesetz gegen eine Entschädigung, die den Rechtsgedanken des Artikels 15 Absatz 3 entspricht, in Gemeineigentum überführt werden.

2) Ein Gesetz regelt die Überführung in Gemeineigentum.

Art. 99 – 1) Der Zusammenschluß von Unternehmungen, insbesondere in der Form von Kartellen oder Konzernen, wird nicht zugelassen, wenn sein Zweck sich dahin richtet, wirtschaftliche Macht zusammenzuballen, ein Monopol zu bilden, die breiten Massen der Bevölkerung auszubeuten oder den selbständigen gewerblichen oder kaufmännischen Mittelstand zu vernichten.

2) Preisabreden, die denselben Zweck verfolgen, sind nichtig.

Art. 100 – Die Sozialversicherung ist in ihrem Bestand zu erhalten und folgerichtig weiter auszubauen.

 

Abschnitt XI

Die Ehe und die Familie

 

Art. 101 – 1) Auf Ehe und Familie bauen Gemeinde und Staat sich auf. In der Familie werden Gehorsam und Ehrfurcht, Gefühl für Verantwortlichkeit, Gemeinsinn, gegenseitige Liebe und Treue gepflegt.

2) Der Staat achtet Ehe und Familie als wichtigste Grundlagen sittlichen und geordneten Zusammenlebens. Er schützt und fördert sie.

Art. 102 – 1) Die der Familie gewidmete häusliche Arbeit der Frau wird der Berufsarbeit gleichgeachtet.

2) Das gesetzliche Güterrecht soll so gestaltet werden, daß die Frau an dem während der Ehe erworbenen Vermögen angemessen teil hat.

Art. 103 – Kinderreiche Familien haben Anspruch auf angemessenen Ausgleich.

Art. 104 – 1) Uneheliche Kinder stehen im beruflichen und öffentlichen Leben den ehelichen Kindern gleich.

2) Elternlose Kinder, die nicht in einer Familie untergebracht werden können, werden in Heime aufgenommen, die ihnen die Familie soweit als möglich ersetzen.

Art. 105 – 1) Dem Staat und den Gemeinden liegt es ob, die Jugend davor zu schützen, daß sie ausgebeutet, leiblich, geistig oder sittlich gefährdet oder verwahrlost wird.

2) Die freie Wohlfahrtspflege nimmt an der Erfüllung dieser Aufgabe teil.

3) Eine Fürsorgemaßnahme im Wege des Zwangs findet nur auf Grund des Gesetzes statt.

 

Abschnitt XII

Die Erziehung und der Unterricht

 

Art. 106 – Die Kinder zu brauchbaren Gliedern der menschlichen Gesellschaft zu erziehen, ist zuvörderst Recht und Pflicht der Eltern oder der Erziehungsberechtigten, die kraft Gesetzes an ihre Stelle treten, aber auch Aufgabe des Staates und der Kirchen oder anderer Religionsgemeinschaften.

Art. 107 – 1) Jeder junge Mensch soll ohne Rücksicht auf Herkunft oder wirtschaftliche Lage so erzogen werden, wie dies seinen erkennbaren Fähigkeiten und seiner inneren Berufung entspricht.

2) Begabten soll der Zugang zu den mittleren und höheren Schulen sowie zu den Hochschulen offen stehen.

3) Zu diesen Zwecken werden erforderlichenfalls öffentliche Mittel zur Verfügung gestellt.

Art. 108 – 1) Alle Kinder sind zum Besuch der Volksschule und der Berufsschule verpflichtet.

2) An diesen Schulen wird unentgeltlich unterrichtet. Die Schüler werden mit den erforderlichen Lernmitteln versehen.

Art. 109 – Soweit dies mit der Aufgabe der Erziehung und mit einem geordneten Schulbetrieb vereinbar ist, wird der Wille der Erziehungsberechtigten im gesamten Schulwesen berücksichtigt.

Art. 110 – Der Staat beaufsichtigt das gesamte Schulwesen. Er übt die Schulaufsicht durch hauptamtlich tätige, fachmännisch vorgebildete Beamte aus.

Art. 111 – 1) Die Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch den guten Willen und die sittliche Festigkeit bilden.

2) Die Jugend soll besonders zur Ehrfurcht vor Gott, zur Achtung der religiösen Überzeugung anderer, zur Zucht und Sitte, zur Selbstbeherrschung und zum Verantwortungsbewußtsein, zur Liebe und Pflichttreue gegen Heimat und Vaterland, zur Versöhnung und zum Ausgleich sowie zum achtungsvollen Verständnis für andere Völker und Staaten angehalten werden.

3) Die in ihren Bünden gegliederte Jugend nimmt selbst an der Erfüllung dieser Aufgaben teil.

Art. 112 – 1) Staatsbürgerkunde ist ordentliches Lehrfach aller Schulen. Sie erschließt den Sinn der Jugend für Wesen und Wert des in den deutschen Verfassungen gestalteten freien Volksstaates.

2) Beim Abgang von der Schule wird jedem Schüler die Verfassung in feierlicher Weise überreicht.

Art. 113 – Die Lehrer an den öffentlichen Schulen haben die Rechte und Pflichten der Staatsbeamten.

Art. 114 – 1) Die öffentlichen Volksschulen sind christliche Schulen.

2) Maßgebend für die Gestaltung der Schulform ist der Wille der Erziehungsberechtigten. Ihm wird Rechnung getragen, wenn die Zahl der Schüler es erlaubt. Ein Schulgesetz regelt das Nähere.

3) In allen Volksschulen wird der Unterricht so erteilt, daß die Gefühle Andersdenkender nicht verletzt werden und die gegenseitige Achtung vor dem anderen Glaubensbekenntnis gefördert wird.

Art. 115 – 1) In allen Volksschulen und Berufsschulen, sowie in allen mittleren und höheren Lehranstalten ist Religion ordentliches Lehrfach. Der Religionsunterricht wird in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der betreffenden Religionsgemeinschaft erteilt.

2) Kein Kind darf gegen den erklärten Willen des Erziehungsberechtigten zum Besuch des Religionsunterrichts gezwungen werden.

3) Kein Lehrer darf gezwungen werden, Religionsunterricht zu erteilen.

4) Lehrer, die Religionsunterricht erteilen, bedürfen hierzu der Vollmacht der Religionsgemeinschaft, der sie angehören.

Art. 116 – 1) Die Hochschulen haben das Recht der Selbstverwaltung nach Maßgabe des Gesetzes.

2) Ist der Lehrkörper zu ergänzen, so haben sie das Recht, Vorschläge zu machen.

3) Bevor ein Lehrstuhl in einer theologischen Fakultät besetzt wird, erhält die kirchliche Behörde Gelegenheit, ein begründetes Bedenken geltend zu machen.

Art. 117 – 1) Private Schulen werden zugelassen, wenn sie den in den Schulgesetzen vorgesehenen allgemeinen Anforderungen genügen.

2) Private Volksschulen werden vom Staat so unterstützt, daß den Bestimmungen des Artikels 108 Absatz 2 genügt wird.

Art. 118 – 1) Der Staat sorgt für die Erwachsenenbildung, insbesondere durch Volkshochschulen und Volksbüchereien.

2) Er nimmt an der Pflege von Kunst und Wissenschaft schützend und fördernd teil.

Art 119 – Dem Staat und den Gemeinden liegt es ob, die einheimischen Tier- und Pflanzenarten möglichst zu schonen und zu erhalten, die Denkmäler der Schöpfung, der Geschichte und der Kunst zu pflegen und den Genuß landschaftlicher Schönheiten zu fördern.

 

Abschnitt XIII

Die Religionsgemeinschaften

 

Art. 120 – Die Religionsgemeinschaften stehen unter den für sie gültigen göttlichen Geboten. In der Erfüllung dieser religiösen Aufgabe entfalten sie sich frei von staatlichen Eingriffen. Als Träger des sittlichen Lebens des Volkes wirken sie neben dem Staat.

Art. 121 – 1) Die Religionsgemeinschaften und ihre Gliederungen, die als Körperschaften des öffentlichen Rechts bestehen, bewahren dem Grunde nach die Rechte, die ihnen kraft Vertrags, Gesetzes oder eines anderen Rechtstitels am 1. Januar 1933 zugestanden haben.

2) Solche Rechte werden auch den Kirchenverbänden, Kirchengemeinden und Kirchengemeindeverbänden zuerkannt, die neu gebildet werden und die Eigenschaft einer Körperschaft des öffentlichen Rechts mit der Errichtung erlangen.

3) Ein Gesetz bestimmt das Nähere, auch darüber, unter welchen Voraussetzungen anderen Religionsgemeinschaften oder Weltanschauungsgemeinschaften die Eigenschaft einer Körperschaft des öffentlichen Rechts durch Gesetz verliehen werden kann.

Art. 122 – 1) Der Staat gewährleistet den ungestörten öffentlichen Gottesdienst und die Wohlfahrtspflege der Religionsgemeinschaften.

2) Er fördert die freie Pflege der Religion in den öffentlichen Krankenhäusern, Wohlfahrts- ­und Fürsorgeanstalten sowie in den Strafanstalten.

3) Er schützt die Geistlichen in der Ausübung ihres Amts.

Art. 123 – 1) Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren.

2) Niemand darf gezwungen werden, eine kirchliche Handlung oder Feierlichkeit vorzunehmen oder sich an einer religiösen Übung zu beteiligen oder den Eid in religiöser Form zu leisten.

3) Das Recht, nach der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft zu fragen, steht den Behörden nur insoweit zu, als eine angeordnete Erhebung dies erfordert oder Pflichten oder Rechte von der Antwort auf die Frage abhängen.

 

Abschnitt XIV

Schluß- und Übergangsbestimmungen

 

Art. 124 – Gesetze und Verordnungen, die zur Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus und ihren Folgen bisher erlassen sind, stehen mit dieser Verfassung nicht in Widerspruch. Dasselbe gilt für Rechtsvorschriften, die bis zum 31. 12. 1948 zum gleichen Zweck erlassen werden.

Art. 125 – 1) Schließt das Land Württemberg-Hohenzollern sich mit einem deut­schen Land oder mit mehreren deutschen Ländern zwecks gemeinsamer Gesetz­gebung, insbesondere auf dem Gebiet der Ernährung, der Wirtschaft, des Finanz­wesens oder des Verkehrs zusammen, so steht diese Verfassung der gesetzgeberischen Zuständigkeit der Vereinigung nicht entgegen.

2) Die Regierung schuldet dem Landtag Rechenschaft über die Tätigkeit und die Abstimmung ihrer Bevollmächtigten in der Vereinigung.

Art. 126 – Diese Verfassung tritt am Tage ihrer Verkündung in Kraft.

 

Die vorstehende Verfassung ist von der Beratenden Landesversammlung in ihrer 10. außerordentlichen Sitzung vom 22. April 1947 beschlossen und vom Volke Württemberg-Hohenzollerns in der Volksabstimmung vom 18. Mai 1947 angenommen worden.

Sie wird hiermit als Grundgesetz des Landes Württemberg-Hohenzollern verkündet.

 

Tübingen, den 20. Mai 1947

(Unterschriften)

 

 

 

(1) Im amtlichen Text steht «einer»; dieses offenbare Versehen ist hier berichtigt.

 

 

 

 

 

FONTE:

Huber, Ernst Rudolf (a cura di), Quellen zum Staatsrecht der Neuzeit, Band 2, Deutsche Verfassungsdokumente der Gegenwart (1919-1951), Dr. M. Matthiesen & Co. KG., Tübingen 1951.



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